Unruhe und Neues in der Gesellschaft. Zur besonderen Lage Deutschlands.

Überblick:

– Drei Beispiele für Neues in Landwirtschaft, Philosophie und Geschlechterbeziehungen

– Warum ich viel Produktives von der neuen gesellschaftlichen Unruhe erwarte

– Zur besonderen Lage Deutschlands

—————————

 

Politische Enttäuschungen, Beunruhigung und Zukunftsängste haben derzeit Konjunktur und verbreiten sich gerade auch unter relativ gutsituierten Mitbürgern. In einer solchen Welle wird leicht übersehen, dass auch Einiges an Neuem im Zusammenleben entsteht und ausprobiert wird. Zumindest in Ansätzen wird Einiges gedacht, vorgestellt und fantasiert – Fantasie ist für mich positiv konnotiert.

Drei Beispiele, die ich beachtlich finde

I. Nicht wenige Mitbürger (wenn sie sich das leisten können) befassen sich mit den Grundlagen der Ernährung und der Landwirtschaft.

Man achtet auf die ernährungsphysiologischen Qualitäten der Lebensmittel und auch auf die Naturverträglichkeit ihrer Entstehung. Es bleibt nicht verborgen, dass die Großen der internationalen Lebensmittelindustrie, des Agrobusiness und der internationalen Vermarktung in großem Stil dabei sind, immer mehr Lebensmittel zu liefern, die die Gesundheit der Konsumenten schädigen. Die natürlichen Grundlagen des Lebens von Pflanzen und Tieren werden missachtet und ruiniert, weil der kurzfristige Maximalprofit sich als  oberstes Gesetz etabliert hat und zunehmend alle anderen Gesichtspunkte verdrängt – trotz einer Flut von Biosiegeln und angeblich beachteter fairtrade-Kontrollen. Wasserressourcen werden ausgeplündert, die Bodenqualität bis zur Unfruchtbarkeit ruiniert.

Für große Teile der Weltbevölkerung, namentlich in den ‚weniger entwickelten‘ Ländern ist bereits die Versorgung mit dem Allernotwendigsten, wie schlecht auch immer es produziert sein mag und wie wenig es der Gesundheit der Esser nützt, im Wackeln und bricht hier und dort zusammen. Hunger und Unterernährung nehmen weltweit zu, seitdem der globale Kapitalismus sich auch die Produktion und die Vermarktung der Welternährung zunehmend unter den Nagel reißt.

Wie sichert man unter diesen Bedingungen die Elementarversorgung im Falle von Zusammenbrüchen durch Kriege, durch Katastrophen oder auch durch die Lebensmittelspekulation des Finanzkapitals?  Es bilden sich Gruppen, die in engen Rahmen, in lockeren Vereinigungen, kommunal und regional sich um die Grundlagen für unabhängigere, bodenständigere Produktionen kümmern. Die Gesundheit von Böden, Pflanzen und Tieren und die Gesetze der gesunden Ernährung der Menschen werden immer interessanter und man denkt auch an die Versorgung bei Kriegen und Katastrophen.

Solche Aktivitäten erfordern Fachwissen sowie auch ein gutes Miteinander der Aktiven. Gegenseitige Hilfe, Vereinsstrukturen, Genossenschaftlichkeit bieten sich hierfür besser an als privatkapitalistische, am Gewinn orientierte Formen.

II. Zu einem anscheinend ganz anderen Themenfeld: Philosophie und Soziologie.

Ich habe in den letzten Jahren den einen oder anderen Text gelesen, in denen Einiges in Frage gestellt wird, was in unserer „westlichen“, von Naturwissenschaften, Technik und weltweiter Expansion geprägten neuzeitlichen Kultur bisher selbstverständlich schien.

Stark entwickelt, zu stark und zu einseitig, erscheint offenbar manchen Autoren gerade auch eine bestimmte typisch westlich-neuzeitliche Sicht auf die Natur einschließlich der Natur des Menschen selber.

Descartes und andere Denker, die im 17. Jahrhundert sich großen Einfluss erarbeitet haben, werden hierfür als maßgeblich angeführt. Sie betonten an der Natur das Messbare, die ökonomische Nutzbarkeit, heißt es, und verstünden die Gattung Mensch eher als eine Anhäufung von Einzelwesen. Die Vorstellung von „Individuum“ als letztlichem Zentrum des Erkennens und Handelns, als Grundbaustein der Gesellschaft hängt hiermit zusammen. Menschliche Gesellschaft erscheint hier als Zusammenschluss von Individuen. Frühere Auffassungen, die mehr von den Kollektiven, den Horden, Stämmen und auch von entwickelten egalitäreren Zivilisationen geprägt sind, wurden verdrängt[2]. Der gesellschaftliche Zusammenschluss wird als mehr oder weniger freiwillige Aktion von Individuen gedacht, bzw. er ist, wenn es nicht anders geht, durch staatliche Gewalt zu erzwingen.

In einem derartigen Rahmen gehen die Individuen ihren individuellen Interessen nach, und bei  manchen Denkern ist das zuvörderst und selbstverständlich die individuelle ökonomische Bereicherung. Kapitalismus und Kolonialismus werden hier moralisch grundgelegt.

Bei manchen dieser früheren Denker erscheint das menschliche Individuum seinerseits fast wie eine Maschine, inklusive einer angenommenen Mechanik seiner/ihrer Gefühle.

Einige moderne Kritiker erklären dieses Denken zu einer Einseitigkeit, einer Verirrung. Dem kann ich folgen. In meinen Augen kann erst ein Bewusstsein, dass jegliches Individuum nur aufgrund gesellschaftlicher Verbundenheit und im Naturzusammenhang existieren und sich gut entwickeln kann, aus den bereits katastrophal werdenden Entwicklungen herausführen.

Die Kritiker der Einseitigkeiten oder Verirrungen des neuzeitlichen westlichen Denkens betonen in diesem Sinne andere Aspekte. Aus meiner stichpunkthaften Lektüre nenne ich hier die Namen Hermann Schmitz („Jenseits des Naturalismus“) und Judith Butler. Dass Menschen Teile der übergeordneten Zusammenhänge Natur und Kollektiv sind; dass sie existieren nicht nur mittels ihrer Entwicklung von Begriffen und Theorien, sondern wesentlich auch mittels ihrer „emotionalen“ Verbundenheiten in Gesellschaft und Kosmos; dass sie kreativ und unberechenbar sind – das sind einige Gesichtspunkte, wie ich sie formulieren würde und die ich Anregungen aus solchen philosophischen Milieus verdanke.

Dem entspricht ein Grundgefühl, eine Ahnung, die sich unabhängig von philosophischen Erörterungen in den letzten Jahrzehnten, meiner Beobachtung nach, bei nicht wenigen Mitbürgern entwickelt: dass wir in großen weltweiten gegenseitigen Abhängigkeiten leben und nur werden weiterleben können, wenn alle Teile, die Menschen und die sonstigen Lebewesen,  zu ihrem Recht kommen. Dieses Grundgefühl für die großen Verbundenheiten, vor allem für die globale Verbundenheit, scheint mir bereits eine gewisse Strömung zu sein.

III.

Die Abwendung vom Patriarchalismus und die Entwicklung andersartiger Beziehungen.

Bereits im 19. Jahrhundert wurde von Kulturkritikern gesagt, dass noch vor aller Aufspaltung der Gesellschaften in soziale Klassen, die vor allem durch unterschiedliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum unterschieden werden können[3], bereits vor vielen Tausenden von Jahren eine erste fundamentale Spaltung sich zu entwickeln begonnen habe, nämlich die Unterdrückung der Frauen und ihre Instrumentalisierung für – männlich geprägte – Interessen sexueller und privatökonomischer Art.

Seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts haben nach und nach zwar Kämpfe für die gleichberechtigte Teilhabe der weiblichen Bürger am politischen Leben sich entwickelt – nach und nach einigermaßen in die Breite und Tiefe, und erst heute hat sich in den Gesetzen mancher Länder Einiges zum Besseren geändert. Nun aber werden in den aktuellen Diskussionen auch tiefer liegende und noch sehr verbreitete Selbstverständlichkeiten ausgeleuchtet. Kulturen männlicher Überlegenheit geraten in Verruf, aber auch Dinge, die – in meiner Sicht – noch viel tiefer liegen:  dass überhaupt in den Beziehungen zwischen den Menschen sexuelle oder überhaupt körperlich-seelische Unterschiede zu Ansatzpunkten wechselseitiger Ausnutzungen, Entwürdigungen und Herabstufungen genutzt werden können und in so vielen Fällen tatsächlich noch immer werden, ob nun von „Gleichberechtigung“ geredet wird oder auch nicht.

Vielleicht ist es etwas zu pathetisch und auch verfrüht von einem Ansatz zu sprechen, der das Potential hat, wesentlich zu einer neuen Gesellschaft beizutragen, in der der kulturelle und ethische Ballast von vielen Tausenden von Jahren der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – Ballast, der sich seit dem Beginn der Abwertung der Frauen angehäuft hat – weggewälzt würde. Vielleicht auch nicht.

Es ist in meinen Augen jedenfalls eine bedeutende Leistung vieler Aktivisten, Autoren und Bewegungen, die Sensibilität in der Gesellschaft für die vielfältigen und oft ganz unbewussten Traditionen und Gefühle patriarchalischer und sexistischer Art zu wecken und damit einen Beitrag zu kommenden Gesellschaftsformen zu leisten, in denen die Menschenwürde besser zur Geltung kommt.

Warum ich viel Produktives von der neuen gesellschaftlichen Unruhe erwarte

In den letzten vier Jahren ist die politische Szene – in meiner Wahrnehmung – viel lebendiger geworden. Seit den aufwühlenden Jahren um 1968 herum sind grundsätzliche Fragen über die Gesellschaftsordnung nicht mehr von so vielen Menschen und so tiefgehend angeschnitten worden. Weit über die Pandemie-Themen hinaus ist Unruhe zu spüren. Kontrollkapitalismus, Verarmung und permanente Kriege zeichnen sich ab und werden, da bin ich sicher, nicht mehr verschwinden. Was führt die Gesellschaft in solche Härten hinein, welche Grundlagen hat diese Entwicklung, entwickeln sich Ideen und reale Grundlagen für gesellschaftliche Umwälzungen, die vom Wesen her günstiger und friedlicher für die große globale Mehrheit sein können?

Es wird eingewandt: die Auseinandersetzungen in den sozialen Medien sind häufig unerfreulich, niveaulos, von negativen Emotionen, Feindschaft, Hass, Abwertung Andersdenkender usw. geprägt. Dem möchte ich nicht widersprechen, allerdings nicht ohne die Frage zu stellen, ob es nicht fundamental im Interesse der Herrschenden ist, wenn Spaltung auf Spaltung in der Bevölkerung entsteht und die gemeinsamen Interessen nicht mehr artikuliert werden können.

Ich möchte weiter einwenden, dass mittlerweile auch ein neues, andersartiges Milieu in der öffentlichen medialen Auseinandersetzung zu beobachten ist: Autoren, Künstler und Journalisten, die professionell und unabhängig von den mittlerweile durchgängigen Finanzierungen der offiziellen Medien durch irgendwelche Interessengruppen (nicht nur durch private Stiftungen, sondern auch durch zweifelhafte Regierungen) an den Problemen arbeiten. Als Beispiele für derartige Arbeiten an der Aufklärung über das politische Geschehen, denen auch ich persönlich viel verdanke, möchte ich in Deutschland Norbert Häring und das Magazin „Multipolar“ unter der Leitung von Paul Schreyer und Stefan Korinth nennen, im englischsprachigen Bereich Autoren wie Iain Davis oder das Magazin „Off Guardian“. Sie sind aber nicht die Einzigen, und wahrscheinlich gibt es ähnliche Leistungen auch in anderen europäischen Ländern wie Frankreich und Italien.

Leider fehlt mir bisher jede Möglichkeit etwas über entsprechende Entwicklungen in China oder anderen großen Weltbereichen zu erfahren. Auch die Genannten scheinen solche Möglichkeiten bisher nicht zu haben. Diese Einschränkungen, ich möchte fast sagen: Einhegungen auf einen begrenzten Erfahrungsbereich sind gefährlich und müssen überwunden werden.

Zum Unterschied zwischen „Widerstand“ und gesellschaftlicher Kreativität

Viele politisch bewusster werdende Mitbürger haben angesichts der Bedrohungen für Freiheit, Lebenssicherheit und Gesundheit, die ihnen mit der Pandemiepolitik ziemlich überraschend serviert wurden, sich „im Widerstand“ zu fühlen begonnen.

Eine derartige Grundkategorie entspricht allerdings nicht besonders gut dem Wesen der heutigen weltweiten Konstellationen.

Es sind vielmehr die Ängste der Superreichen in Ost und West: sie sehen die acht Milliarden Menschen, denen sie keine Versprechungen sozialer Verbesserungen mehr glaubhaft anbieten können. Unter den acht Milliarden weltweit wachsen Bewusstsein und Selbstbewusstsein angesichts der Misere, die ihnen real geboten wird. Es sind die Ängste der Milliardärsschichten weltweit vor Macht- und Kontrollverlust, aus denen die diktatorischen Anmaßungen ihrer Politik entspringen.

Stark ist letztlich keine Elite mit ihrem social credit system, mit ihrer Künstlichen Intelligenz, die den Bürger bis in die letzten Details seines Verhaltens steuern zu können beansprucht. Mir kommen solche Perspektiven eher wie Panikreaktionen einer kleinen obersten Schicht vor, die der Welt die brutalste Spaltung aller Zeiten in arm und reich und die Zerstörung aller Lebensgrundlagen in Aussicht stellt, weil sie nicht anders wirtschaften kann und auf Diktatur setzen muss.

Es geht daher in meinen Augen nicht primär um einen „Widerstand“, der die schlimmsten Spitzen einer derartigen Entwicklung abbiegen möchte, jedoch ihre ökonomischen Grundlagen kaum in Frage stellt, sondern um das gesellschaftlich Neue, das sich längst in Ansätzen entwickelt.

Das Neue zeigt sich im wachsenden Bewusstsein für das, was manche „Menschheitsfamilie“ nennen; es kann auch als Bewusstsein der weltweiten Verbundenheit und wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander gefasst werden. Wer durch IEKA schlendert, legt sich selber die Tatsachen, wenngleich in oberflächlichen Formen bequemen Konsums, in den Einkaufswagen. Was wir kaufen können, entsteht zumeist in der Arbeit der unterschiedlichsten und entferntesten Menschen, die oft bis zum Existenzminimum ausgebeutet werden. Zumeist entstammt es zudem einer Rohstoffbeschaffung, die die Ressourcen der Menschheit ausplündert und verschleudert, als gebe es kein Morgen.

Die Globalisierung der letzten Jahrzehnte lässt uns die Tatsachen der internationalen Verbundenheit intensiver denn je spüren. Auch wenn in Zukunft die Exzesse der globalistischen kapitalistischen Zentralisierung durch dezentralere Strukturen abgelöst werden: diese werden sich global miteinander koordinieren müssen.

Das Gespür für die natürlichen Lebensgrundlagen, für die Natürlichkeit des menschlichen Lebens selber, das Gespür für die Würde jedes Mitbürgers und die Relativität von kulturellen, religiösen, politischen Gegensätzen wächst mittlerweile bei größeren Zahlen von Mitbürgern – so viel jedenfalls meine ich notieren zu dürfen. Niemand kann wissen, welche konkreten politischen Formen die Auseinandersetzung zwischen dem Alten, der sturen zerstörerischen Profitwirtschaft, und dem Neuen tatsächlich annehmen wird, aber ich bin sicher, dass diese Auseinandersetzungen vitaler und heftiger werden.

Zu denjenigen gehörend, die seit Beginn der „Pandemie“ sich gegen die Eingriffe gegen Freiheit, Selbstbestimmung und reale Gesundheit geäußert haben, war mir auch ein anderer Aspekt der Entwicklung bald klar: dass die Mehrheit der Mitbürger aus einem nachvollziehbaren Impuls heraus, vor allem aus Sorge um das Gemeinwohl sich den Maßnahmen eingeordnet hat.

Die Beschimpfungen, die die beiden Seiten einander reichlich haben zukommen lassen – die Maßnahmen-Kritiker seien Gefahren für die allgemeine Gesundheit; die der Regierung folgende Mehrheit bestehe aus Schlafschafen, die keinen Durchblick hätten – entsprangen, in meiner Sicht, zum großen Teil beide letztlich dem Wunsch nach bestmöglicher gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Bewältigung von großen Problemen. Zum ersten Mal seit Langem regten sich in unterschiedlichen, oft sogar sich feindselig artikulierenden Segmenten der Gesellschaft wieder Impulse, politisches Verhalten aus Prinzipien einer guten Gesamtentwicklung abzuleiten.

 

Zur besonderen Entwicklung und Rolle Deutschlands

möchte ich noch einige Bemerkungen anschließen.

Wahrscheinlich zeigen sich in diesem Land bestimmte Widersprüche der internationalen Entwicklung in sehr deutlicher und möglicherweise auch besonders zerstörerischer Weise.

Als Deutscher fühle ich mich diesem wunderbaren Land und den Tiefen seiner Entwicklung, soweit ich sie verstehe, natürlich verbunden. Es hat in bestimmten Phasen radikal Böses hervorgebracht, aber zu anderen Zeiten auch immense Impulse der Aufklärung, des Humanismus, des sozialeren Wirtschaftens (man denke hierbei an die frühere Arbeiterbewegung etwa der Zeit vor dem 1. Weltkrieg).  Beispielsweise sind in der sog.  deutschen Klassik der Zeit um 1800 (man denke an die Zentren wie Weimar und Jena, an Goethe, die Humboldts, Hegel und zahlreiche andere) die Grundlagen der Entwicklung von Natur, Gesellschaft und Kultur tiefgründig durchdacht worden, noch bevor die meisten modernen Wissenschaften sich konkret entwickeln konnten. Vielleicht haben die Nazis nicht ohne Absicht das KZ Buchenwald direkt neben Weimar platziert.

Im 20. Jahrhundert wurde das Land zudem ein Brennpunkt der globalen Großmachtrivalitäten. Ich meine hier nicht nur, dass arrogante und gierige Führungsschichten Deutschlands zweimal versucht haben, in die Riege der großen Imperialisten vorzustoßen (zunächst in Form des Militarismus und Imperialismus, der wesentliche Anteile an der Konstellation des 1. Weltkriegs hatte, dann in der Form des nationalsozialistischen Eroberungs- und Versklavungswahns), sondern auch, dass das Land selbst Objekt und Schauplatz der Rivalitäten der wirklichen Großmächte war und bis heute ist.

Deutschlands heutige Lage kann noch immer unter dem Aspekt beschrieben werden, dass es eine Mittelstellung zwischen „Ost“ und „West“ einnimmt. Bereits im Ausgang des 1. Weltkriegs baute sich die Spannung zwischen den beiden größten Mächten der folgenden Jahrzehnte auf, den USA einerseits und andererseits dem (zumindest im Ansatz) revolutionären Russland, der Sowjetunion plus dem großen Schwarm der gegen den westlichen Kolonialismus kämpfenden Länder wie China, und diese Spannung zerriss dann 1945 buchstäblich das Land in zwei Teile.

Gemäß einer geostrategischen Doktrin, die bereits mindestens ab etwa 1900 immer wieder aus den USA verlautete, darf der eurasische Doppelkontinent – von Portugal bis Wladiwostok oder Hongkong – unter keinen Umständen sich zu einer politischen Einheit vis a vis dem globalen Neokolonialismus der USA entwickeln, sondern muss immer in Spaltung gehalten werden. Andernfalls entstünde eine Macht, der die außenstehenden USA nicht mehr gewachsen wären.

Krasseste Ausformungen dieser auch und gerade von den USA seit mehr als hundert Jahren betriebenen Spaltung des eurasischen Kontinents waren die Einverleibung des im 1. Weltkrieg  geschlagenen Deutschland nach 1918 in die westliche Allianz gegenüber der entstehenden Sowjetunion, gipfelnd im Hitlerschen Schlag von 1941, der die Sowjetunion vernichten sollte und im Hintergrund langfristig  von maßgeblichen Kräften in US-Establishment mit vorbereitet worden war, und dann die „Blockkonfrontation“ an der innerdeutschen Grenze von 1945 bis 1989.

Im Zeichen der Rivalität um die Ukraine sind wir erneut Zeugen einer intensivierten Einbindung Deutschlands in westliche Interessen und Militärstrategien gegenüber Russland – und dem mittlerweile als dessen Hintergrundmacht erscheinenden China.

Allerdings hat diese West-Einbindung unseres Landes (wie man sie gröblich vereinfachend nennen könnte) niemals gut zu seiner eigenen Lage, zu den Interessen der meisten Bürger und zu seiner Kultur gepasst und folglich wurde ihr von innen heraus auch immer wieder entgegengearbeitet. Ein relativ bekanntes Beispiel kann unter Stichworten wie „Rapallo“ nachgelesen werden. Erhebliche Teile der deutschen Oberschichten, auch seiner militärischen Führungsgruppen, waren dann Gegner der Ostpläne der Nazis und wurden von ihnen entmachtet.

In unseren letzten Jahrzehnten waren die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland erneut zu großer Bedeutung für beide Seiten gewachsen und mussten durch krasses Eingreifen wie die Zerstörung von Northstream 2 kupiert werden[4]. Auf eine grobe Formel gebracht, passt die geografisch und geschichtlich gegebene Zwischenstellung Deutschlands heute erneut nicht den US-Interessen, mit der Folge, dass nun schwere Angriffswaffen und Befehlszentren der USA gegenüber Russland in Deutschland postiert werden. Ich nehme mit einer derartigen Feststellung allerdings in keiner Weise Partei für Interessen des russischen kriminellen Oligarchenregimes, das in seinem ausbeuterischen und autoritären Charakter sich nicht wesentlich von dem der USA unterscheidet.

Mir scheint es jedoch manchmal etwa so: in der gegenwärtigen globalen Auseinandersetzung um Beherrschungs- und Einflussregionen, die derzeit die USA und einige ihrer Verbündeten sich reiben lässt mit Russland und dessen Hintergrundmacht China, könnten die USA darauf setzen, Russland zu schweren militärischen Schlägen gegenüber Deutschland zu provozieren. Damit hätten sie ein langandauerndes lästiges und störendes Problem einigermaßen final aus der Welt geräumt, nämlich mit der Unzuverlässigkeit auch gleich die Existenz Deutschlands mitsamt seiner vermaledeiten  Zwischen- und Mittlerstellung. Vielleicht bliebe eine stark reduzierte und demoralisierte Restbevölkerung ohne international bedeutendes ökonomisches Potential, die man nicht besonders zu beachten bräuchte.

Zu einem derartigen Szenario – russische Atomwaffen auf Deutschland, die dieses Land im US-Interesse erledigen – passt auch recht gut die ökonomische Abwicklung Deutschlands, die mittlerweile – auch mittels der Zerstörung von Northstream2 – volle Fahrt aufzunehmen scheint. Was bereits etwa um 1975 sich abzeichnete, wird nun anscheinend zur dominanten Bewegung.

Damals wurde das Interesse an Verlagerungen von „deutschem“ Kapital ins Ausland bereits deutlich artikuliert und begann zu wesentlichen Umstrukturierungen zu führen. Als Beispiel für die heutigen Verhältnisse kann der VW-Konzern dienen, der heute den größeren Teil seiner Investitionen und Profite anderswo auf der Welt tätigt, vor allem in China. Im Trend dieser De-industrialisierung[5] sind auch solche merkwürdigen Entwicklungen zu sehen wie die mittlerweile fast vollendete Abhängigkeit Deutschlands von externen Lieferanten von Energie.

Eine Partei wie die Grünen war vom Kern ihrer ökonomischen Ziele her von Anfang an eher eine propagandistische Verkleidung dieses Kapitalstrends als eine wirkliche Umweltschutz- und Friedenspartei.

Das Szenario, das sich aus dem hier Skizzierten ergibt – weder wünsche ich es noch halte ich es für das einzige mögliche – sieht kurz und brutal so aus: nachdem die noch vorhandenen ökonomischen Stärken Deutschlands, die auch für das internationale kapitalistische Geschehen bisher unentbehrlich waren, geschleift wurden und das Land zum Austragungsort schwerer militärischer Konfrontationen umgerüstet wurde, kommen die Atombomben drauf und der Problembär ist beseitigt, finis Germaniae. Vielleicht für die Übriggebliebenen eine Situation voller Möglichkeiten, neue, bessere gesellschaftliche Formen zu entwickeln.

——-

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass in manchen Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren anscheinend zunehmend rasch und zunehmend verbreitet in manchen Köpfen in Gang gekommen sind, in unserem Land und natürlich auch an vielen anderen Stellen des Globus, sich bedeutende Ansätze für große gesellschaftliche Umwälzungen zeigen. Die geschichtliche Bewegung wird nicht nur von den dystopischen und katastrophalen Trends bestimmt, wie derzeit manche das befürchten, sondern auch von denjenigen Menschen, die bessere, nicht-ausbeuterische Verhältnisse konzipieren und durchsetzen können.

 

 

 

 

 

 

 

 

[2] Anschaulich das Werk von David Graeber und David Wengrow, „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“, das anscheinend dabei ist eine große Leserschaft zu gewinnen.

[3] Als Beispiele: die Aristokratien, die Sklaven, die Bourgeoisie, die Proletarier

[4] während die Wirtschafsbeziehungen zwischen den US-Konzernen einerseits und Russland und China andererseits sich ungeachtet militärischer Konfrontationen wie in der Ukraine offenbar relativ ungestört weiterentwickeln.

[5] dem nun auch die viele weitere inländische VW-Arbeitsplätze (und natürlich Weiteres, was daran hängt), zum Opfer fallen sollen, einigen deutlichen neuen Ankündigungen zufolge.

 

Technischer Hinweis zur Kommentarfunktion: diese musste ich schon vor mehreren Jahren abschalten wegen dauernden Missbrauchs für Webmüll und dergleichen. Bemerkungen zu meinen Beiträgen daher bitte an meine e.mail-Adresse wagrobe@aol.com. Ich werde jede Zuschrift, die irgendetwas Sachliches enthält, dann im Anhang zu meinem jeweiligen Beitrag auf dieser page veröffentlichen, wenn nicht vom Absender anders verfügt wird.

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für  Unruhe und Neues in der Gesellschaft. Zur besonderen Lage Deutschlands.

Der Krieg gegen Deutschland

Mit dem Angriff auf ein russisches Radarzentrum wird die Lage bedeutend eskaliert und die Aussicht auf baldige Kriegshandlungen, auch und gerade auf deutschem Territorium, verdichtet.

Der Angriff hat mit einer Selbstverteidigung der Ukraine gegen russisches Vordringen nichts zu tun.

Wenn man überhaupt davon ausgehen will, dass es bei dem derzeitigen Krieg um die Verteidigung dieses Landes gegen russisches Großmachtstreben gehe, passt der Angriff schlecht zu dieser Sicht.

Das angegriffene Radarzentrum hat den Berichten zufolge die Aufgabe, Raketen, Marschflugkörper etc., die in russisches Territorium eindringen sollen, rechtzeitig zu entdecken, um Gegenmaßnahmen zu ermöglichen. Wenn diese und andere ähnliche Anlagen diesen Zweck nicht mehr erfüllen können, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die russische Führung ihrerseits Anlagen in Europa angreift, von denen aus Raketen, Marschflugkörper etc. starten können, bzw. von denen aus solche militärischen Operationen gesteuert werden. Es ist bekannt, dass bspw. in Ramstein oder Stuttgart zentrale Führungsstellen der USA bzw. der NATO unterhalten werden. Der Einsatz von Raketen, Marschflugkörpern, auch von Atomwaffen seitens der russischen Führung gegen solche Ziele in Deutschland, möglicherweise auch anderswo  auf europäischem Territorium, rückt mit dem Angriff auf das russische Radarzentrum nun deutlich näher.

Dass die ukrainische Führung von sich aus mit eigenen Waffen die Zerstörung des russischen Radarzentrums unternommen haben könnte, um sich gegen die Niederlage an den ukrainischen militärischen Fronten zu wehren, ist höchst unwahrscheinlich. Schon einmal deswegen, weil dieses Zentrum  mit den Kämpfen auf ukrainischem Boden nichts zu tun hat, und auch, weil die ukrainische Führung, was ihre Bewaffnung, ihre Drohnen usf., ihre Informationen über das russische Militär und ihre ganze Strategie betrifft, hochgradig von den USA etc. abhängt.

Eine andere Konstellation zeichnet sich, meine ich, immer deutlicher ab:

Die USA befinden sich seit langem in einer geostrategischen Auseinandersetzung mit dem Hauptrivalen China, die an vielen Fronten geführt wird, verdeckt oder offen. Es geht nicht nur um das südchinesische Meer, Taiwan, Myanmar, den Kaukasus etc., sondern auch darum, ob Russland mit seinem noch immer vorhandenen militärischen Potential noch stärker an die Seite Chinas rückt und die chinesischen geostrategischen Kräfte und Möglichkeiten stärkt. Es geht auch darum, ob die nichtrussischen Teile Europas, deren Kraftzentrum Deutschland ist, in die US-Strategie eingebunden werden können, die auf Russlands Schwächung zielt. Russland als potentieller militärischer Partner Chinas muss in den Augen dieser westlichen Strategen entscheidend geschwächt werden, wenn es  denn sich nicht gegen China in die Absichten der USA einspannen lässt. Gegenwärtig deutet Vieles darauf hin, dass die USA derzeit auf eine entscheidende Schwächung Russlands hinarbeiten, bspw. auf eine schwere militärische Niederlage Russlands und/oder auch einen Putsch, der eine USA-freundlichere Führung herbeiführen würde.

Hier kommt die traditionelle Zwischenstellung Deutschlands und anderer europäischer Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien, Schweden etc. erneut und verschärft wieder ins Spiel.

Ohne dass diese Staaten von den USA davon abgebracht werden, immer wieder wie in der Vergangenheit eine klarere militärische Frontenbildung auf ihren eigenen Territorien gegen Russland zu verhindern und mit ihren erheblichen ökonomischen Kräften im Austausch mit den russischen Potentialen die russischen Kräfte zu stärken, kann ein entscheidendes geostrategisches Plus der USA gegen ein mit China verbündetes Russland und damit gegen China selbst nicht zustande kommen.

Die Zerstörung von Northstream 2 war ein Symptom und ein Signal, wie es in diesem Spannungsfeld der deutschen Ökonomie und dem gesamten politischen System Deutschlands ergehen kann. Hier wurde signalisiert: wenn ihr nicht von Euch aus bereit seid, die Kooperation mit Russland entscheidend herunterzufahren, dann werden wir drastisch eingreifen.

Der Angriff auf das russische Radarzentrum enthüllt nun deutlicher als zuvor die Perspektive, dass seitens der US-Geostrategen auch Deutschland weiter, viel tiefgehender als bisher geschwächt werden muss, weil anders das Problem Russland nicht in ihrem Sinne zu bewältigen ist.

Es ist bereits seit längerem eine Deindustrialisierung im Gange, die Deutschland als einen wesentlichen ökonomischen Baustein der westlichen Stärke nun bald weitgehend wegfallen lassen könnte. Diese Deindustrialisierung wird seit Jahrzehnten auch von inneren Kräften wie den Grünen und erheblichen Teilen des deutschen Kapitals vorangetrieben und ist spätestens seit der Ära Merkel gemeinschaftliches Treiben auch der übrigen politischen Parteien des Landes; sie hat durch die Northstream-Sprengung weitere starke Impulse erhalten. Wenn das Land aber als ökonomisch stärkender Faktor der westlichen Geostrategie zunehmend wegfällt, was hindert diese noch daran, es von Grund auf zu ruinieren und nun endlich ein für alle Mal die permanente historische Störung, die es für die  – grob gesprochen: – ‚angelsächsischen‘ Interessen immer wieder mit sich gebracht hat, aus dem Weg zu räumen? Und wie passend wäre es, wenn man das nicht selber besorgen müsste, sondern „die Russen“ die Drecksarbeit machen ließe?

So gesehen, könnte der Angriff auf das russische Radarzentrum ihrem eigentlichen Sinne nach  die Provokation sein, mit der man die russische Führung nun zu atomaren Angriffen auf Ziele in Deutschland bewegen könnte.

Man hätte mehrere Eisen dabei im Feuer: endlich ein für alle Mal auch den Deutschen und Europäern klar zu machen, dass ihre eigentliche Bedrohung von Russland ausgehe. Ein für alle Mal die ökonomischen und kulturellen Potenzen Deutschlands und damit Europas auf ein bescheideneres Maß herunterzubringen und den „störenden“ Impulsen einer selbständigeren geostrategischen Politik die Grundlage zu entziehen.

Es könnte auch die Variante eine Rolle spielen, den russischen Eliten klar zu machen, dass sie untergehen, wenn sie starrsinnig sich gegen die Ausbreitung der USA-Macht in der Ukraine etc. weiterhin wehren, militärisch in Deutschland eingreifen und dann völlig diskreditiert und ohne Stützen, sich nur noch auf das Bündnis mit China verlassen könnten und über kurz oder lang von diesem viel stärkeren „Freund“ einkassiert würden.

Für die Bevölkerung Deutschlands und angrenzender Länder wird nun möglicherweise etwas klarer, dass es keine Zukunft im herrschenden System der globalen Ausbeutung und globalen Rivalität gibt, In diesem System unterscheiden sich China und Russland etc. nicht prinzipiell von dem westlichen militarisierten Kontrollkapitalismus. Dieses globale System eröffnet nun gerade auch den Deutschen und den Europäern düstere Aussichten auf Kämpfe ums Überleben unter Bedingungen ständiger, auch atomarer Kriegführung auf dem eigenen Territorium.

Wenn diese Sicht klarer wird, entstehen viele weitere neue Impulse, die Gesellschaft von Grund auf anders neu zu organisieren.

 

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Der Krieg gegen Deutschland

Der Konflikt um Gaza entwickelt sich immer zerstörerischer

Auf globaler verantwortlicher Ebene wird dies in großer Schärfe wahrgenommen und benannt, bspw. durch den Generalsekretär der UN, Guterres.

Guterres sprach am 22.12.23 von einem „Albtraum“ („nightmare“), den die Bevölkerung Gazas durchmache. Laut der website der UN sagte er:

“He outlined devastation that includes more than 20,000 Palestinians reportedly killed and 1.9 million people, 85 per cent of the population, forced to flee their homes.

Gaza’s health system is on its knees, clean water is at a trickle and the World Food Programme (WFP) has warned of the threat of widespread famine.”

„Er zeichnete das Bild einer Verwüstung, die über 20.000 Palästinenser, die Berichten zufolge getötet worden waren, und 1,9 Millionen Menschen, 85% der Bevölkerung, einschließt, die zur Flucht aus ihren Heimstätten gezwungen waren.

Das Gesundheitssystem in Gaza ist in die Knie gegangen, sauberes Wasser tröpfelt nur noch und das Welt-Ernährungsprogramm (WFP) hat vor der Gefahr weitverbreiteter Hungersnot gewarnt.“ (meine Übs., wgr)

Guterres sprach die Hoffnung aus, der UN-Sicherheitsrat werde eine Resolution mit der Forderung eines sofortigen Waffenstillstands beschließen. Diese kam jedoch aufgrund des Widerstandes hauptsächlich der USA nicht zustande, sondern lediglich ein Appell, humanitäre Hilfe für die Bevölkerung Gazas zu ermöglichen.

Die Organisation „Human Rights Watch“ mit Sitz in New York wandte sich am 18.12. 23 an die Öffentlichkeit und beschuldigte die Regierung Israels, den Hungertod von Zivilisten als Kriegswaffe einzusetzen und zu diesem Zweck humanitäre Hilfe, außer in ganz geringem Ausmaß, systematisch zu unterbinden. Human Rights Watch schreibt u.a., israelische Amtsträger hätten erklärt, ihr Ziel sei, Zivilisten in Gaza von der Versorgung mit Nahrung, Wasser und Treibstoff abzuschneiden; israelische Streitkräfte blockierten absichtlich deren Zulieferung, behinderten willkürlich humanitäre Hilfe, zerstörten Ackerland und schnitten die Zivilbevölkerung von Dingen ab, die für ihr Überleben unverzichtbar seien.

Um zu einer genaueren Beurteilung der Lage beizutragen, referiere ich hier zunächst einige Basisinformationen über Gaza, s. Wiki.

Der sog. Gazastreifen ist ein schmaler Landstreifen an der Mittelmeerküste, der eigentlich zu Ägypten gehört, aber seit dem Krieg 1948/9 von Israel kontrolliert wird. Auf einer Fläche von 380 Quadratkilometern, ein Viertel mehr als eine westdeutsche Großstadt wie Dortmund mit 280 Quadratkilometern, leben dichtgedrängt nach heutigen Schätzungen ca. 2,2 Millionen Menschen, die wirtschaftlich fast völlig von der Zufuhr alles Lebenswichtigen an  Energie, Lebensmitteln, medizinischem Bedarf etc. von außen abhängen. Das meiste wird aus Israel geliefert und der Staat Israel ist aufgrund seiner militärischen Oberhoheit auch dafür verantwortlich, er kontrolliert mehrere Grenzübergänge. Außerdem gibt es noch einen Übergang nach Ägypten.

Der jetzige Konflikt begann bekanntlich mit einem Einbruch von Hamas-Kämpfern aus Gaza in israelisches Territorium, die in terroristischer Weise eine große Zahl von Zivilisten getötet und – nach einigen Berichten – auch furchtbar misshandelt haben. Seitdem wird die israelische Kriegführung im Gaza-Gebiet, die als Notwehr und Gegenschlag gerechtfertigt wird, immer weiter eskaliert, ohne dass zum Zeitpunkt Ende 2023 von einem Ende der Bombardierungen an der Oberfläche und des Tunnelkrieges gesprochen werden könnte.

Der Gazastreifen ist etwa 40 km lang und über die meiste Länge hinweg weniger als 10 km breit. Dieses knappe Gebiet wird nun seit fast drei Monaten von der israelischen Armee pausenlos (mit der Ausnahme eines kurzen Waffenstillstandes, der bald widerrufen wurde) beschossen und bombardiert. Im Nordteil, wo die Bevölkerung am stärksten städtisch konzentriert war, sind nach offiziellen Angaben inzwischen mehr als 60% der Gebäude zerstört oder beschädigt, die meisten Bewohner sind in den Süden Gazas geflohen, sodass nunmehr 1,9 Millionen der Gesamtbevölkerung von rd. 2.2 Mio.  Menschen dort konzentriert sind. Das beschreibt auch ein Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“  vom 22.12. 23, mit Bildmaterial.

Auch der Süden wird zunehmend bombardiert.

Die israelische Regierung hat erklärt, ihr Ziel sei die Eliminierung der Hamas-Terroristen und der Organisation Hamas überhaupt, aber sie führe den Krieg so, dass die Zivilbevölkerung maximal geschont würde; allerdings sei es unvermeidlich, dass auch diese „Kollateralschäden“ in Kauf nehmen müsse, die man aber so gering wie möglich halte.

Im Folgenden habe ich einige meiner eigenen persönlichen Fragen und Überlegungen notiert, die ich der Notiz für wert halte, auch weil ähnliche Fragen, meiner Beobachtung nach, von vielen anderen Menschen gehegt und gestellt werden.

Wie verträgt sich diese Erklärung der israelischen Regierung mit den Verlautbarungen der UN und auch einer Organisation wie „Human Rights Watch“, die auf eine ganz andere Entwicklung der israelischen Kriegführung hinweisen, nämlich auf eine gezielte Herbeiführung des Massensterbens in der Zivilbevölkerung, weniger durch direkten Beschuss als durch Blockaden der Heranführung des Lebensnotwendigsten wie Nahrung, Energie und medizinische Hilfe und durch die Zerstörung eines Großteils der Wohngebäude?

Auch was Netanjahus erklärtes Ziel betrifft, die Eliminierung der Hamas-Terroristen, ergeben sich aus dem Erwähnten weitere Fragen. Muss dieses Leiden nicht zwangsläufig zu noch mehr Hass, zur massenhaften Neurekrutierung durch terroristische Organisationen wie die Hamas führen?

Dies ist fast vorhersagbar im unmittelbaren Raum der historisch bisher unauflöslich erscheinenden, nunmehr fast 80jährigen Konfrontation zwischen dem israelischen Staat und der großenteils vertriebenen palästinensischen Bevölkerung, die in Gaza, in der Westbank und in anliegenden Staaten wie Libanon konzentriert ist.  Aber auch im Bereich der ständigen Reibungen mit den Nachbarstaaten, hauptsächlich Syrien und Libanon, und anderen sich als arabisch verstehenden Staaten wird die Konfrontation mit Israel stärker werden. Und last not least auf globaler Ebene: unter den vielen hunderten Millionen Menschen, die sich mit den Palästinensern verbunden fühlen, teilweise aufgrund des gemeinsamen, zumeist muslimischen kulturellen Erbes, aber auch aufgrund eines höheren Gesichtspunktes: dass der Widerstand gegen imperialistische Bevormundung durch westliche Staaten wie die USA und deren (bisher) engsten Verbündeten Israel zu intensivieren sei. So scheint es im „globalen Süden“ häufig gesehen zu werden, und dieser Druck ist wohl auch für den UN-Generalsekretär Guterres der Hintergrund seiner relativ klaren Äußerungen. Würde er sie nicht machen, dann würde seine Behörde in diesem „Süden“, zu dessen Anwälten sich China und auch Russland mittlerweile aufwerfen, noch weiter delegitimiert

Kann jemand wie Netanjahu tatsächlich glauben, eine „Eliminierung“ der Terroristen in Gaza, der Westbank etc. werde gelingen? Muss er nicht im Gegenteil davon ausgehen, dass unter den Palästinensern, aber auch unter den mitbetroffenen Hunderten von Millionen Menschen hauptsächlich des „Südens“ das Gefühl eine gewaltige Stärkung erfährt, man müsse mit aller militärisch-terroristischen Kraft gegen seinen Staat vorgehen und diesen seinerseits eliminieren? Dass die reale Bedrohung für seinen Staat enorm zu-, nicht abnehmen wird?

Solche Aspekte führen mich auch zu Fragen nach weiteren, „geopolitischen“ Hintergründen der Eskalation des Konflikts um Gaza und die Palästinenser überhaupt. Diesen Aspekt kann ich hier nur andeuten.

Ich sehe es so: wir erleben gegenwärtig so etwas wie eine neue Runde von Versuchen der Neuaufteilung der Welt durch herrschende Eliten, der Eliten im Westen, aber auch in China, Russland und anderswo. Nachdem der Anspruch der USA auf die Stellung als alleinige Supermacht gescheitert ist, verfallen die geldschweren Führungsschichten der verschiedenen Kraftzentren des Globus, um ihren Ansprüchen gegeneinander und ihrer Kontrolle über die Bevölkerungsmassen Geltung zu verschaffen, auf ein zeitweiliges Quasi-Nebeneinander von Räumen auf dem Globus, deren Abgrenzungen zueinander nie friedlich und dauerhaft gelingen können, sondern im Wege ständiger Abgrenzungskriege ständig neu austariert werden sollen. Man nennt das „Multipolarität“. Welche aktuellen geopolitischen Ziele in diesem Rahmen derzeit von der israelischen Regierung, aber auch der US-Regierung und anderen verfolgt werden und zum Teil wahrscheinlich auch das Vorgehen Israels in Gaza motivieren, verstehe ich derzeit noch nicht.

Die enormen menschlichen Verluste, der Kriegsfuror, der heute in Gaza und auch der Ukraine sichtbar wird, führen mich zu weiteren Fragen:

Wenn unter den Augen der ganzen Menschheit es heute möglich ist, Massen von Mitmenschen, die unter einem terroristischen Regime wie dem der Hamas zu leben gezwungen sind und aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrer überwiegenden Masse nichts anderes für sich und ihre Schicksalsgenossen wünschen als Frieden und ein gewisses Niveau an Existenzsicherheit,

wenn solche Menschenmassen dem massenhaften Tod durch Beschuss, dem Tod durch Verhungern, Schutzlosigkeit und Seuchen ausgesetzt werden können und das bereits drei Monate lang, ohne dass vonseiten einer sog. Weltgemeinschaft Mittel gefunden würden, dem Einhalt zu gebieten außer Resolutionen und Demonstrationen, die keine praktische Wirkung haben und die verantwortliche  Regierung offenbar kaum beeindrucken,

wenn die US-Regierung trotz ihrer eigenen Mahnungen zum Schutz der Zivilbevölkerung weiterhin alles an Geld und Waffen liefert, was diese Art der Kriegführung verschlingt und in den UN schon die ersten Ansätze in Resolutionsentwürfen, die eine etwas deutlichere Sprache sprechen, blockiert,

wenn Derartiges möglich ist, was kann als nächstes kommen?

Welche Teile der Weltbevölkerung, die irgendwelchen Machthabern, Befehlshabern williger Armeen mit überlegener Kriegstechnik im Wege sind oder von ihnen ohnehin als überflüssig angesehen werden, müssten nun zu überlegen anfangen, was für ihr eigenes Überleben erforderlich ist?

Ich kann hier nur kurz daran an die markantesten Beispiele aus dem von den USA geprägten westlichen Bereich verweisen. Immer wieder, seit 200 Jahren, seit Thomas Malthus, wird eine drastische Verminderung der Weltbevölkerung gefordert, z.B. auf den Georgia Guidestones (https://de.wikipedia.org/wiki/Georgia_Guidestones). Hier heißt es, die Menschheit auf 500 Millionen (ein Fünfzehntel der heutigen ca. 8 Milliarden, wgr.) zu reduzieren, sei der Weg zum Frieden. Man lese auch bei prominenten Schriftstellern wie Yuval Harari nach, oder bereits dem Club of Rome von 1972, die ich nur als Beispiele dafür anführe, wie oft und gerne von den „Überflüssigen“, den „Zu Vielen“ geschrieben wird.

Zurück zu uns, den Bürger von Staaten wie Deutschland, deren Regierung in besonderer Weise sich mit Israel verbündet hat und offenbar, abgesehen von wirkungslosen Warnungen vor „Übertreibungen“ der Kriegsführung, Israels Ziele unterstützt, wie fragwürdig die auch sein mögen.

Solche Bürger, wenn sie sich überhaupt bewusst mit der Entwicklung auseinandersetzen, fragen sich natürlicherweise, ob sie selber etwas beitragen können, die Dinge ins Positivere zu wenden. Meines Erachtens führt jedoch das Debattieren und Kopfzerbrechen, welche „Lösung“ des Palästina-Israel-Konflikts zu befürworten sei, nicht weiter.

Wir können nicht beurteilen, wie im Konfliktgebiet die Menschen denken und empfinden und welche Ansätze sie selber sehen und praktizieren können. Wir werden auch mit Forderungen an unsere Regierung, die EU-Spitze oder die US-Regierung nicht viel bewirken, denn diese sind im Kriegsdenken festgebrannter denn je.

Unlängst forderte der deutsche Verteidigungsminister – mit Blick auf die erwarteten Konflikte im eigenen europäischen Bereich – eine massive Aufrüstung und vor allem das Bewusstsein in der Bevölkerung, dass sie selbst wieder in Kriege hineingezogen werde und Partei ergreifen müsse.

Dies und vieles andere zeigt, in meiner Auffassung, dass diejenigen Machtstrukturen, unter denen wir leben und durch die der Reichtum und die politische Anmaßung gewisser Eliten in den letzten Jahrzehnten ins Obszöne und Irreale gesteigert wurden, ins Ausweglose führen, und das betrifft mittlerweile die Bevölkerungen der Länder immer stärker mit, die bisher sich auf der Sonnenseite der weltweiten Entwicklung gefühlt haben mögen. Diese Machtstrukturen führen mit großer Wahrscheinlichkeit in noch größere Kriege und Massenvernichtungen, als Gaza oder die Ukraine jetzt bereits unmittelbar zeigen. Wer sich und der kommenden Generation solche Entwicklungen nicht zumuten will, wird Anderes tun müssen als sich für Frieden  auszusprechen und vielleicht zu demonstrieren. Was für ein Frieden soll das sein zwischen den verschiedenen Eliten und Machtgruppen der Welt, die ohne Krieg nicht mehr leben können?

Erforderlich wird der radikale Bruch mit dieser Welt der Spaltungen und Aufhetzungen.

Das Bewusstsein für die Verbundenheit Aller in dieser Welt, für die Angewiesenheit Aller auf ein konstruktives Miteinander, das Finden und Entwickeln neuer Formen gesellschaftlicher Kooperation, die sich nicht mehr in die Kriegsschemata der Eliten werden einfügen lassen, wird weiterführen. Dies ist nicht an die Beurteilungen von Konflikten wie um Gaza oder die Ukraine gebunden, die eher nur weiteres Spaltungspotential in unseren Meinungskriegen enthalten, sondern es ist an unser eigenes tägliches Leben gebunden, in dem wir Verbundenheiten wachsen lassen und politische Wachheit entwickeln können.

update:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Der Konflikt um Gaza entwickelt sich immer zerstörerischer

Wird Deutschland nun doch abgewickelt?

Vor etwa dreißig Jahren hieß es, die Wirtschaft der vormaligen DDR sei so marode, das noch vorhandene Inventar an Anlagen etc. sei so wertlos, dass es fast komplett verschrottet werden müsse; manches ging, teilweise demonstrativ für symbolische Preise von 1 US-$, an sog. Investoren aus dem Westen, aus den USA, Frankreich etc., und die große Mehrzahl der Menschen, die bislang in der DDR gearbeitet hatten, wurde arbeitslos. Wenn sie gegen die Stilllegungen protestierten, liefen sie gegen die Wand; Politiker der BRD und der DDR, die andere Auffassungen vertraten, hatten keine Chance.

Förderturm der Kaligrube Bischofferode in der ehem. DDR

https://www.dw.com/de/der-arbeitskampf-von-bischofferode/a-18037900

Meine Vermutung: jetzt ist die BRD, die sich an diesem Prozess unter der Fuchtel der USA maßgeblich beteiligt und lange Zeit sich als seinen Profiteur gemodelt hat, selber an der Reihe.

Aber zunächst einmal zurück zur Lage Anfang der 90er Jahre, ein paar Details:

Trotz der vorausgegangenen wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung der DDR gab es noch leistungsfähige Betriebe, vor allem gab es eine große Zahl erfahrener und arbeitswilliger Arbeiter und Fachkräfte, und es gab die traditionellen Lieferbeziehungen mit den anderen Staaten des vormaligen östlichen internationalen Wirtschaftssystems COMECON: mit Russland, Tschechien, Polen etc.

All das hätte gute Grundlagen für eine Neustrukturierung, für neue Investitionen und einen ökonomischen Aufschwung abgeben können, wenn man ihn denn politisch gewollt hätte. Gewollt aber war etwas Anderes: die völlige Demütigung der Menschen und die ökonomische Ausblutung des gesamten östlichen Komplexes, der die vormals in Ansätzen sozialistische Sowjetunion zum Kern gehabt hatte und der die mit der Sowjetunion verbundenen „Ostblockstaaten“ umfasste – die allerdings überwiegend  nicht freiwillig verbunden waren, wie Polen, Tschechien usf.

Jeffrey Sachs, Ökonom aus den USA, Berater Jelzins bei der Privatisierung Russlands

Boris Jelzin, Präsident Russlands 1991-1999

Nicht gewollt war auch, seitens der westlichen Siegermächte des 2. Weltkrieges, die ökonomische Stärkung und Verselbständigung, die ein vereinigtes Deutschland mit einer derartigen Politik zu erreichen drohte. Der erste Chef der Treuhand, Rohwedder, dem man Absichten unterstellte, die in diese Richtung gingen, wurde nach kurzer Amtszeit per sog. RAF  aus dem Weg geräumt.

Michail Chodorkowsky, russischer Oligarch

Für das, was man in den neunziger Jahren unter Jelzin an Russland vollzog: Aushungerung, Bevölkerungsverminderung und Verschleuderung des vormaligen Staatseigentums an milliardenschwere kapitalistische Abenteurer aus dem Westen und millliardengeile neue Oligarchen, finden sich am Beispiel des Schicksals der DDR nach 1991 unter der neuen Treuhand-Chefin Birgit Breuel, der Nachfolgerin des ermordeten Rohwedder, reichlich strukturelle Parallelen, wenngleich die konkreten Formen wesentlich milder ausfielen.

Im Jahre 2023 entfaltet sich nun für das ganze Deutschland, ein Land unter einem politischen System, das BRD genannt wird, ein Szenario, in dem sich einiges in größerem und radikalerem Maßstab zu wiederholen scheint.

Die traditionellen Stärken der deutschen Ökonomie und Kultur werden abgewickelt, übrigbleiben würde eine halbverelendete Landschaft ohne wesentliche Qualitäten, Menschenmassen, denen unter Profitgesichtspunkten die Existenzberechtigung abgeht; die man nach Belieben restverwerten kann.

Ein von zehntausenden Straßensperren in Deutschland 2023

So ungefähr die Essenz dessen, was uns unter dem Great Reset angesagt ist.

Klaus Schwab und Thierry Malleret, Titel ihres Buchs vom Juni 2020

 

Klaus Schwab, Präsident des World Economic Forum

Endzeitstimmung? Nein. Es wird zwar Menschen geben, die aus einer solchen Sicht   pessimistische Konsequenzen ziehen, doch wenn man die Entwicklung von Grund auf  versteht, vertraut man trotz aller Härten und Absurditäten, die uns bevorstehen, auf die menschliche Natur: aus dem Chaos, aus dem Untergang des Alten entsteht in der Geschichte das Neue, das Humanere. Ohne den Bankrott des Alten, das der Menschheit und der Menschlichkeit den Kampf ansagt und ihnen das Blut aussaugt, würde es nicht genügend Inspiration und Kraft für das Neue geben, das auch hier, in Deutschland und Europa, und gerade hier, viele tiefe Wurzeln hat. Wir haben viele Wurzeln für eine neue Ökonomie des Gemeinwohls, in unserer Kultur liegen viele Ansätze für ein Miteinander ohne gegenseitige Abwertung und Ausnutzung.

Aber zunächst geht es mir darum, die konkrete Lage zu beschreiben. Wenn sie nicht einigermaßen erfasst wird, mit all dem Neuen und oft Unangenehmen, wird man in alten Mustern bleiben, man wird an Politiker appellieren, es doch bitte nicht so schlimm zu machen usf. Das ist sinnlos. Man kündigt uns bereits neue Kriege an, in die das Land selber direkt verwickelt wird. 1918 und 1945 haben gezeigt, was dabei für Deutschland herauskommt.

Nur was an neuen Strukturen aus eigener Initiative von Bürgern und Mitmenschen entsteht, zählt und hat eine Chance.

Viele Menschen spüren mittlerweile deutlich, dass es bergab geht mit Deutschland und dass es dieses Mal wesentlich ernster wird als bisher.

Dekadenz-Erscheinungen

In den 90er Jahren war bereits in den Medien bezüglich des wiedervereinigten Deutschland vom „kranken Mann Europas“ die Rede, der sich allerdings dann wieder zu erholen schien; seit dem Beginn der Corona-Krise 2020 reißen nun aber die beunruhigenden Meldungen und Prognosen überhaupt nicht mehr ab. Zusammenbrüche von Lieferketten, von Energieversorgung usf., Fachkräftemangel in vielen Bereichen …. In der Tat melden seitdem viele Firmen immer wieder Versorgungsschwierigkeiten, Teile kommen nicht oder nur sehr zögerlich, und mit der Sprengung an North Stream 2 wurde ein bedeutender Strang der Energieversorgung zerstört – andere sprangen zwar bereitwillig ein, aber dadurch wurde das Problem der starken Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten nur verlagert. Dass man aus dieser Abhängigkeit durch weitere starke Entwicklung der sog. regenerativen Energien in absehbarer Zeit und in genügendem Umfang herauskommen könne, ist völlig unrealistisch.

Mittlerweile häufen sich in der Tat beunruhigende Beobachtungen, die viele Menschen alltäglich machen können, und dies kontinuierlich. Die Mittel für den Lebensunterhalt werden knapper durch das, was man Inflation nennt, und auch die relativ großen Bevölkerungsteile, die noch ausreichende Einkommen bzw. so etwas wie Rücklagen oder Vermögen haben, sehen den Zahn der Zeit daran nagen. Man spricht von bevorstehenden dauerhaften „Wohlstandsverlusten“, ein Wort, das der großen Zahl von Mitbürgern mit prekären jobs, mit Niedriglöhnen und zu kleinen Renten wie Zynismus vorkommen muss, das aber auch anderen Sorgen macht.

Die demografische Entwicklung ist seit mehreren Jahrzehnten krass negativ und macht aus Sicht der Wirtschaft den ständigen Import von Arbeitskräften unausweichlich.

Ein anderes Feld: die Klagen über die Verschlechterung der Arbeitsleistungen vieler Akteure, namentlich Behörden und Firmen. Die Verlässlichkeit der Bahn in Deutschland erinnert mittlerweile an Entwicklungsländer, in deutlichem Kontrast zu vergleichbaren Ländern wie Frankreich oder Japan. Der Straßenverkehr kämpft mit immer mehr Hindernissen,  Baustellen scheinen oft Monate und Jahre lang unbearbeitet herumzustehen und nehmen an Zahl ständig zu. Sind solche Geschichten wie die über den Ruin der Autobahnbrücken bei Leverkusen oder Lüdenscheid (und wie ihre Reparaturen sich über viele Jahre hinziehen), Ausnahmen oder eher doch bezeichnend für die Leistungsfähigkeit und den Leistungswillen von Ministerien und Behörden? Dass sie  Zeit und Nerven der Bürger beliebig aufs Spiel setzen und ökonomische Schäden in Höhe von –zig Milliarden verursachen, ist kaum ein öffentliches Thema, ganz im Gegensatz zu gelegentlichen kurzen Verkehrs-Stillständen bei Klimaklebereien.

Bei Kontakten mit Ämtern, aber auch Firmen entsteht nicht mehr ganz selten die Frage, ob die Sachbearbeiter am anderen Ende, wenn sie überhaupt erreichbar sind, etwas von ihren Angelegenheiten verstehen.

Der Verfall des allgemeinen Bildungsniveaus, ja selbst elementarer Techniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen ist offenkundig. Ein Viertel der Viertklässler kann nunmehr nach offiziellen Erhebungen nicht lesen; diese Entwicklung wurde durch die Unterbrechungen des normalen Schulunterrichts ‚wegen Corona‘ zwar beschleunigt, aber nicht verursacht.

Was Viele mittlerweile über ihre Erfahrungen mit Kliniken, Pflegeheimen und Ärzten zu erzählen haben, trägt auch nicht unbedingt zu einer optimistischen Einschätzung der Gesamtentwicklung bei.

Ich will die Litanei nicht fortsetzen.

Das Genannte reicht, für mein Gefühl, längst aus, um mir die Frage zu stellen: befindet sich unser Land in strukturellem Abstieg? Gehen seine positiven Eigenschaften, die lange Zeit weltweit anerkannt wurden – die negativen sowieso – nunmehr in einem mächtigen historischen Prozess verloren? Wenn ja, was für ein Prozess ist das? Wem kommt er zugute? Kann man Faktoren und Akteure identifizieren? Entstehen auch bei uns neue Ideen, neue Bewegungen, die weiterführen im Gegensatz zu dem Kulturpessimismus, in den manche Beobachter geraten?

Weil ich bei weitem nicht allein mehr stehe mit solchen Fragen, riskiere ich, hier für meine Person bestimmte Antworten zu formulieren und der Bewertung durch andere Beobachter des Geschehens zu unterziehen. Ich freue mich auf den Austausch von Meinungen.

Der Ausdruck „Dekadenz“ ist oberflächlich, was liegt zugrunde?

Bis hierher habe ich eine Liste von Schwierigkeiten im gesellschaftlichen Leben formuliert, wie sie von Vielen erfahren werden, und zwar in einer Sprache formuliert, wie man sie im Alltag gebraucht; einer Sprache, die die Dinge zurückhaltend benennt und möglichst wenig Anstoß erregen soll. Aber ich meine, man kann tiefer gehen, man kann Zusammenhänge besser erfassen, wenn man von der Oberfläche der ökonomischen und zwischenmenschlichen Widersprüche übergeht zur Grundkategorie Verbundenheit:

Geht es bei allem Beschriebenen denn nicht darum, dass die Verbundenheiten, die bisher unsere Gesellschaft noch einigermaßen zusammengehalten haben, derzeit rapide schwächer werden, sich zersetzen, zerstört werden und dass das Leiden an dieser gesellschaftlichen Zersetzung das Allgemeine ist, die Substanz des geschichtlichen Prozesses?

Deutschland als ein besonderes geschichtliches kulturelles Gebilde, als eine Solidargemeinschaft, wie Viele das Land bisher irgendwie verstanden haben und weiter zu verstehen suchen, als eine Nation – wenn man den Ausdruck in diesem Sinne gebrauchen will, nicht als eine überhebliche Abgrenzung gegenüber anderen Gemeinschaften – Deutschland ist durch besondere, spezifische Ausformungen der gesellschaftlichen Verbundenheit geprägt, die von den spezifischen Formen anderer Länder und Nationen sich unterscheiden. Wenn wir als Bürger dieses Landes uns solcher Eigenarten vergewissern, hat das im Prinzip nichts mit Abwertung anderer Länder, Kulturen und Nationen zu tun, sondern mit der Entwicklung einer gewissen Sensibilität für die eigenen Stärken und Schwächen, die uns auch sensibler machen kann und sollte für die Stärken und Schwächen anderer, insbesondere für das, was andere besser können.

Eine jede Kultur, verstanden als die Summe, das System der ihren Angehörigen grundlegenden und oft selbstverständlichen und unhinterfragten Verhaltensweisen, als System des ökonomischen Zusammenarbeitens wie auch der Familien, der politischen Szenen und dessen, was als schön und erstrebenswert gilt, entwickelt ihre eigenen Formen, in denen die Menschen sich ihres Aufeinander-Angewiesen-Seins bewusst werden, in denen sie es praktizieren und in denen sie es negieren und zerstören.

Für Deutschland scheinen mir einige Prägungen besonders kennzeichnend:

  • Das intensive Verhältnis zur Arbeit und den eigenen Produkten

 

  • Die vielfältigen und oftmals stark wirksamen Kollektive, z.B. die formellen Sozialsysteme und die informelleren Systeme der gegenseitigen Fürsorge und Kommunikation

 

  • Das starke Bewusstsein des nationalen Zusammenhalts, der Gefährdung durch äußere Kräfte und eine gewisse dementsprechende Engherzigkeit, und gleichzeitig die relativ große Offenheit für vieles „Äußere“, wie es sich fast gesetzmäßig entwickeln musste in dem großen Land in der Mitte Europas, wo die Einflüsse von allen Seiten zusammentreffen und viele kreative Kombinationen entstehen.

 

Im Einzelnen:

 

  1. Die Verbundenheit mit der Arbeit, den eigenen Produkten und deren Bedeutung für die Gesellschaft:

Benachbarte Länder wie Frankreich oder England, die im hohen Mittelalter, etwa um 1200,  noch ziemlich ähnlich wie Deutschland sich entwickelten, verlegten sich spätestens seit dem 17. Jh. relativ stark auf äußere Expansion, Kolonialismus, Sklavenhandel etc. und bezogen einen erheblichen Teil des nationalen Wohlstandes von daher. Selbstverständlich konzentrierte dieser sich jederzeit zu größten Teilen bei den Reichen und Mächtigen, aber auch die unteren Schichten blieben von dieser Entwicklung nicht unberührt. Demgegenüber war die Bevölkerung Deutschlands stärker auf die Entwicklung der eigenen Ressourcen angewiesen, der eigenen begrenzten Naturvorkommen, der eigenen technischen Findigkeit und der eigenen Organisationsfähigkeiten. Während englische und französische Kolonisten im 17., 18. und 19. Jh. Nordamerika, Indien, Afrika, Indochina usf. sich unter den Nagel rissen, war Vergleichbares  den deutschen Fürsten und Kapitalisten weitgehend verwehrt, ja das Land wurde im Dreißigjährigen Krieg und auch noch später selber zum Objekt von Eroberungen, vor allem seitens der französischen Krone. [1]

Selbst unter den harten Bedingungen der Industrialisierung, der Hungerlöhne und des sozialem Elends vieler Jahrzehnte prägte sich hier ein Typ von industriellem Arbeiter relativ stark heraus, der nicht nur am Lohn, sondern auch an der Qualität des eigenen Produkts interessiert war, auf die eigene Arbeit und die eigenen Qualifikationen einen gewissen nicht unberechtigten Stolz entwickelte und mit der technisch-wissenschaftlichen Sphäre der Produktionsprozesse, mit den Leistungen der Ingenieure in Wechselwirkung stand.

Ein Eisenwerk um 1872, Gemälde von Adolph Menzel

Diese Arbeiter waren sich der grundlegenden Bedeutung ihrer Produkte und ihrer Qualität für das gesamte gesellschaftliche Leben relativ bewusst. Sie praktizierten selbst unter harten Ausbeutungsbedingungen in dieser Weise ein hohes Maß sozialer Verbundenheit, außerdem auch eine relativ starke Organisiertheit in Arbeiterparteien, Gewerkschaften und Genossenschaften.

Bezeichnenderweise wurde ihnen von vermeintlich Radikalen gelegentlich ausgerechnet das ausdrücklich zum Vorwurf gemacht: sie klebten zu sehr am Gebrauchswert der Produkte, d.h. an ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit, statt lediglich auf den Tauschwert zu achten, auf die Quantität des Lohnes.

Arbeit lediglich als job aufzufassen, von beiden Seiten, vom Arbeitgeber wie vom abhängig Beschäftigten her, Arbeit nur unter dem Geldaspekt zu sehen und zu organisieren: vom Arbeitgeber unter dem Aspekt, dass jeder Lohn nur ein lästiger Abzug am Profit sei und jedes Produkt lediglich der Träger seines Geldwertes für seinen Hersteller;  vom Beschäftigten unter dem Aspekt, dass jede Arbeitsstunde nur Abzug von eigentlichen privaten Leben sei und sich nur rechtfertige, indem sie Lohn bringt. Unternehmen und Beschäftigte, die das etwas anders sehen, bekommen Schwierigkeiten. Diese Veränderung wirkt heute nun seit Längerem auch hier immer stärker.

Der natürliche Impuls der Verbundenheit mit der eigenen Arbeit und dem arbeitenden Kollektiv, der Verbundenheit mit der Gesellschaft über die Arbeit lässt sich jedoch nicht auf Dauer völlig unterdrücken und ausreißen, er wird sich neue Formen suchen und sich neu entfalten.

 

2. Die vielfältigen und oftmals stark wirksamen Kollektive, z.B. die formellen Sozialsysteme und die informelleren der gegenseitigen Fürsorge und Kommunikation

Wahrscheinlich sind in keinem anderen Land während der letzten ca. 150 Jahre derart umfassende Systeme der sozialen Absicherung entstanden wie in Deutschland. Man kann gesetzliche Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, die in Deutschland im Kern bereits zu Ende des 19. Jhs. geschaffen wurden, unter verschiedenen Aspekten betrachten: als bürokratische Monster, als Produzenten einer „Vollkasko-Mentalität“, als soziales Opium, das den abhängig Beschäftigten die Durchsetzung ihrer Interessen abnehme und sie schwäche; man kann sie aber auch unter dem Aspekt betrachten, dass hier umfassende Systeme tatsächlicher Verbundenheit vorliegen, der Verbundenheit der Arbeitenden mit den durch Alter oder Arbeitslosigkeit Ausscheidenden, der Gesunden mit den Kranken usf.

Diese kollektiven Systeme sind alles Andere als selbstverständlich und werden zunehmend in der Praxis infrage gestellt und erodiert.

Die private Rente unterbricht die Verbundenheit der Arbeitenden mit den Alten im selben Land. Anstelle ihres ‚Generationenvertrags‘, der Rente auf Basis der Umlage zwischen Arbeitenden und Rentnern tritt die Verwaltung privater Versicherungsverträge einzelner Individuen mit profitorientierten Finanzriesen, die ihre Gewinne in hohem Maße aus der internationalen Finanzspekulation und der krassen Ausbeutung der schwachen Länder beziehen. Viele der heute Arbeitenden scheiden auch aus dem Generationenvertrag dadurch aus, dass sie als Niedriglöhner und prekär Beschäftigte nicht mehr mit existenzsichernden späteren Zahlungen aus der staatlichen Rentenversicherung rechnen können. Das Gespenst von drohenden „Verteilungskämpfen zwischen Alt und Jung“, zwischen den Beziehern noch ausreichender (und teilweise merkwürdig fetter) Renten und denjenigen, die zwar einzahlen müssen, aber davon nichts mehr haben werden, taucht schon gelegentlich auf und ich rechne damit, dass eines Tages unter den Bedingungen realer Not versucht werden wird, jüngere Benachteiligte mit Stimmungen zu infizieren wie: ‚schickt die Alten früher auf den Friedhof, dann bekommen wir mehr aus der Rentenkasse‘.

Es wird darauf ankommen, neue ganz bewusste Formen der gesellschaftlichen ökonomischen Verbundenheit, der Fürsorge der Jungen für die Alten wie auch der Alten für die Jungen, der Gesunden für die Kranken, der wirtschaftlich Stärkeren für die Schwächeren usf. zu entwickeln (und natürlich von den noch existierenden nützlichen  Systemen so viel wie möglich zu retten).

Die zahlreichen nicht-staatlichen sozialen Formen, die auf mitbürgerlicher, nachbarschaftlicher, kommunaler Verbundenheit basieren, wie auch Vereine, kirchliche und säkulare Fürsorge usf, streife ich hier nur. Sie wirken sozialer Isolation entgegen und verhindern tendenziell völlige Verelendung und sind in Deutschland traditionell stark entwickelt. Sie prägen unsere Kultur deutlich mit. Entsprechend deutlich sind auch hier Abnahme, Zerstörung zu verzeichnen, die mit den erklärten und mehr noch den versteckten Bestrebungen von gewissen Reichen und Mächtigen, die Menschen zu vereinzeln, zusammenhängen.

 

3. Das starke Bewusstsein des nationalen Zusammenhalts, der Gefährdung durch äußere Kräfte und eine gewisse dementsprechende Engherzigkeit bis hin zum Chauvinismus – und gleichzeitig die relativ große Offenheit für vieles „Äußere“, wie es sich fast gesetzmäßig entwickeln musste in dem großen Land in der Mitte Europas, wo die Einflüsse von allen Seiten zusammentreffen und viele kreative Kombinationen entstehen.

Die politischen Strukturen Deutschlands seit der Lösung aus dem europäischen Frankenreich der Karolinger und den ersten deutschen Königen im 10. Jahrhundert unterschieden sich von denen etwa Frankreichs und Englands in der Entwicklung durch das Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch meist durch die relative Schwäche der Zentralgewalt. Die reale Macht verteilte sich in Deutschland über viele Jahrhunderte hin zwischen vielen relativ starken Territorialstaaten sowie auch vielen relativ autonomen Städten einer- und dem König bzw. Kaiser andererseits, während sie anderswo nach und nach stärker beim König (einem „absoluten“ Herrscher wie Ludwig XIV. in Frankreich) oder einem umfassenden Bourgeoisregime zentralisiert wurde (wie in England seit der ‚glorious revolution‘ von 1688 und der Gründung der bank of England 1694). Der Anspruch des Kaisertums, das Karl d. Gr. um 800 inaugurierte, als Oberherrschaft über das christliche Europa blieb Schimäre.

Man kann durchaus auch positive Kehrseiten der lange Zeit schwachen Zentralisation Deutschlands erkennen.

Namentlich seit dem Bauernkrieg und den Reformationen des 16. Jahrhunderts waren die Machthaber der deutschen Teilstaaten gezwungen, in der Konkurrenz zueinander und in der Furcht vor neuen revolutionären Eruptionen, die innere Entwicklung nicht ganz zu verspielen. Einige von ihnen verlegten sich relativ früh zum Beispiel auf die Verbesserung der Bildung breiterer Schichten. Beispielsweise  waren viele Fürstenhöfe bis hinunter zu Kleinstaaten nicht nur Orte zuweilen protziger Repräsentation und eines oft obszönen Missverhältnisses zwischen dem hier konzentrierten Reichtum und dem Elend breiter Massen, zumal derer auf dem Lande, sondern sie waren immerhin oft auch Kulturzentren mit Bibliotheken und Bühnen für breitere Schichten. Hier ein Beispiel, was selbst winzige Fürstentümer kulturell unternahmen, und ein weiteres.

Einige Teilfürstentümer waren die ersten in Europa, die – bereits seit etwa 1600 – Schritte hin zur allgemeinen Schulbildung unternahmen.

Relativ zahlreich waren auch Universitäten. Zu einer derart deutlichen provinziellen Öde, wie sie das breite Land im hochzentralisierten Frankreich bis heute in gewissem Maße prägt, konnte es in Deutschland unter diesen Bedingungen nicht kommen.

Die Kritik an der ökonomischen Zersplitterung und Unterentwicklung, an dem provinziellen Muff des Systems ist zwar berechtigt, aber einseitig, weil sie die von eben diesem System mit getragene, relativ starke kulturelle Entwicklung Deutschlands nicht berücksichtigt. Diese trug dann ihre Früchte – gerade auch im Ökonomischen – in der zweiten Hälfte des 19. Jhs., als die kapitalistische Zentralisation einsetzte und – im internationalen Vergleich überraschende – ökonomische Stärken Deutschlands zeitigte. Deutschland war seitdem vor allem auch aufgrund seines relativ breiten und differenzierten Bildungssystems international unbestritten führend in vielen Wissenschaften, in Naturwissenschaften und ihren ingenieursmäßigen Anwendungen. Elektrotechnik und Chemie, Relativitätstheorie und Atomtheorie einschließlich Kernspaltung, Fernsehen u.v.a.m. wurden nicht nur, aber entscheidend in Deutschland entwickelt und noch in Nazizeiten schuf Konrad Zuse den ersten elektronischen Computer.

Auch in den Kulturwissenschaften wie Philosophie und Geschichte orientierte man sich international lange Zeit hindurch vorwiegend an den Entwicklungen in Deutschland.

Friedrich Rückert, Orientalist, Sprachwissenschaflter, Dichter

Ludwig Feuerbach, Philosoph und Sozialwissenschaftler

Johann Wolfgang v. Goethe

Eine weitere Seite der viele Jahrhunderte währenden Kleinstaaterei Deutschlands ist wahrscheinlich in dem etwas anderen Grundgefühl zu sehen, das den deutschen Bürger traditionell relativ eng mit „seiner  Obrigkeit“ verbindet. Der Territorialherr – der sächsische oder der bayrische König, ein Herzog von Sachsen-Weimar oder auch das Patriziat einer freien Reichsstadt wie Frankfurt am Main – war seinen Bürgern faktisch etwas näher und unterlag auch größerer Beaufsichtigung ‚von unten‘ als ein absolutistischer Monarch in Versailles mitsamt seinem völlig abgehobenen Adelsgefolge oder die Ausplünderer West- und Ost- Indiens, die Eigner der Kapitalgesellschaften der Londoner City. Die  typisch deutsche Struktur war für feudale Brutalitäten zwar offen, wie den Verkauf von „Landeskindern“ als Soldaten an die Briten für ihren Kolonialkrieg in Nordamerika durch einen hessischen Fürsten oder wie das preußische Knüppelregime, dürfte aber doch insgesamt zu etwas mehr Ausgleich beigetragen haben. Das traditionelle Verbundenheitsgefühl vieler deutscher Bürger mit „ihrem“ Staat, mit „ihrer Obrigkeit“ hat von daher auch reale Gründe. Es ist nicht nur ein Produkt kirchlicher Disziplin und mentaler Unbeweglichkeit („Thron und Altar“ im reformierten Bereich, Bündnis der Habsburgerdynastie mit dem katholischen Klerus).

Ein kompliziertes Kapitel scheint mir von den immer wieder auftretenden Bedrohungen der territorialen Integrität Deutschlands gebildet zu werden. Zumal im Dreißigjährigen Krieg 1618-48: zu dieser Zeit  war fast ganz Deutschland den Annexionsgelüsten der französischen und auch zeitweilig der schwedischen Krone ausgesetzt, die Armeen äußerer Mächte, nicht nur die Armeen der inneren Gegner, der katholischen und der protestantischen Mächte,  plünderten und verbrannten große Teile Deutschlands und mordeten große Teile der Bevölkerung; Frankreich erhob sogar noch unter Napoleon III. bis hin zu Bismarcks Zeit Ansprüche auf das rechte Rheinufer. Nur Polen wurde seit den ersten Teilungen (Ende des 18. Jahrhunderts) noch mehr geschunden, während Deutschland sich zu dieser Zeit schon in einer langen Erholungsphase befand (und Preußen sich massiv an der Zerstörung Polens beteiligte).

Nicht Frankreich, noch viel weniger die Insel England waren je in einer vergleichbaren Lage. Diese Konstellation musste Gefühlen Auftrieb geben wie, dass man seine Existenz gegen äußere Feinde zu verteidigen das Recht habe – das deutsche „Nationalgefühl“ speist sich mE zu nicht geringen Teilen aus dieser speziellen Form der Verbundenheit. Man muss an dieser Stelle selbstverständlich auch vor Augen haben, dass Expansionsgelüste der neuen Eliten des wilhelminischen Reiches (ab 1871) dann in gewisser Weise den Spieß umkehrten, dass im 1. Weltkrieg unverhohlen Annexionen von Teilen Frankreichs, die Annexion Belgiens, Eroberungen im Osten und koloniale Eroberungen in allen möglichen Teilen der Welt angestrebt wurden und traditionelle und in gewisser Weise verständliche Elemente des deutschen Nationalgefühls für brutale imperialistische Abenteuer in Dienst genommen wurden. Aber man sollte auch berücksichtigen, dass dann mit der Niederlage 1918 Deutschland erneut Annexionen hinnehmen musste und fälschlicherweise als Alleinschuldiger des Krieges beschuldigt wurde mit dem Ziel seitens der Siegermächte, es als Nation permanenten neuen Demütigungen unterziehen zu können. Die Siegermächte von 1914-18 und von 1939-45 befassten sich im Ernst mit der erneuten Zerstückelung Deutschlands, der Rückführung auf die frühneuzeitliche Kleinstaaterei, mit Entvölkerungs- und Re-Agrarisierungsplänen (Morgenthau), und nur die konkreten machtpolitischen Zerwürfnisse zwischen den „Siegern“, der Sowjetunion, den USA, Großbritannien und Frankreich verhinderten Derartiges. Die Spaltung von 1945 war immerhin so etwas wie ein Ausläufer solcher Interessen.

Wenn man heute im Zeichen der prinzipiellen Kritik am Nationalismus und im Zeichen des Strebens nach dem Bewusstsein weltweiter Verbundenheit über die nationalen und kulturellen Trennungen hinweg sich auch das deutsche Nationalgefühl kritisch zur Brust nimmt, darf man mE nicht vergessen, dass dieses von der hier skizzierten konkreten deutschen Geschichte her auch Elemente elementarer Verbundenheit enthält. Bedeutende Repräsentanten der Kultur haben es auch immer wieder einmal verstanden, diese Elemente zu verbinden mit Weltoffenheit und der Wertschätzung anderer Nationen und Kulturen, ja aller Kulturen.

Die Globalisten und Transhumanisten negieren prinzipiell die Nationen und die Nationalstaaten und arbeiten derzeit an der Installierung einer multipolaren Aufteilung der Welt unter die mächtigsten Eliten wie bpsw. die Eliten der USA oder Chinas. Traditionelle politische Systeme wie nationale Parlamente und gewählte Regierungen, allgemeine Wahlen usf. gehören für sie der Vergangenheit an, an ihre Stelle treten weltweit einige wenige Machtzentren, eben die Pole einer sog. Multipolarität, die die Bevölkerungen zahlreicher Staaten jeweils zusammenfassen unter bürokratischen  Regierungen, die der Kontrolle durch nationale Wahlen faktisch entzogen und lediglich ihren Geldgebern, den größten Finanz-, Digital-, Pharma- und sonstigen Konglomeraten verantwortlich sind. Ein Beispiel ist die EU-Bürokratie.

Manche fragen sich , warum Deutschland so besonders betroffen war und weiter ist von der Hartnäckigkeit, mit der die Parteien und Regierungen die – auch wirtschaftlich ­- ruinösen Zwangsmaßnahmen der Corona-Episode durchgezogen haben und bis heute sich der Kritik daran entziehen, auch von der Blockade der Debatte in sämtlichen etablierten Medien, Gibt es dafür globale Parallelen? Gibt es in den Interessen der übergeordneten Machtgruppen wie des US-Komplexes spezielle Motive, warum Deutschland so gnadenlos heruntergefahren wurde  und nunmehr anscheinend vor noch umfassenderer und andauernder Herabdrückung, ja vielleicht tatsächlich vor so etwas wie seiner historischen Abwicklung steht? Vor der Zerstörung aller der tiefgehenden Verbundenheiten, die das Land jahrhundertelang geprägt hatten und auch zu der zeitweiligen außergewöhnlichen Leistungsfähigkeit in ökonomischer und kultureller Hinsicht wesentlich beigetragen haben? Zu Ende des 19. Jahrhunderts blamierte es damit die traditionellen Kolonialmächte England und Frankreich, es rappelte sich aus der Niederlage von 1918 wieder hoch und selbst nach einer zweiten großen Niederlage 1945, der weitgehenden Zerstörung und der Teilung in zwei Staaten kamen seine traditionellen Stärken doch wieder erneut zum Tragen.

Vielleicht sind es mehrere für Deutschland historisch und  geopolitisch prägende Besonderheiten, die gründlicher als bisher zerstört werden müssen, wenn die Globalisten ihre derzeitigen geopolitischen Konzepte realisieren wollen. Vielleicht sind es die erwähnten starken inneren Verbundenheiten, vielleicht ist es auch die geografische Mittel- und Mittlerstellung zwischen Ost und West[2]. Mit der „Multipolarität“ wird jede eigenständige Qualität Deutschlands, seine ökonomische Stärke, sein politisch-kultureller Anspruch, wie er sich etwa im Grundgesetz noch niederschlägt, und auch der generelle demokratische emanzipatorische Anspruch, der sich aus der Zeit der Aufklärung und der Weimar-Jenaer Klassik herleitet, zum Störfaktor.

Unter derartigen Gesichtspunkten könnte man mE versuchen, die offensichtlichen Dekadenzerscheinungen Deutschland tiefer zu verstehen, und zwar als wesentlich gewollte Bewegungen innerhalb globaler Umstrukturierungen, deren Treiber man pauschal als Globalisten, Transhumanisten und Multipolaristen identifizieren würde.

An dieser Stelle breche ich erneut ab, obwohl bislang Vieles nur angerissen wurde und vielleichtauch fragwürdige Gesichtspunkte zur Geltung kamen.

Que faire?

Wir haben im Offenen Roten Kreis  uns bereits darauf verständigt, dass Angst vor bestimmten vorgestellten Zukünften wie z.B. dem eben skizzierten Abstiegs-Szenario der schlechteste Ratgeber ist. Nicht nur, weil wir mittels Ängsten am effektivsten beherrscht werden können, auch weil wir uns selber dadurch am effektivsten lähmen. Wenn im Obigen massive Dekadenzerscheinungen an unserem geliebten Land beschrieben wurden – die weltweit viele Parallelen haben, wenngleich sie an jedem Land der Welt, sogar an jedem Ort spezifisch daherkommen -,  heißt das ja keineswegs, dass sie immer stärker werden und uns schließlich unter sich begraben müssten. Wie tief das soziale und kulturelle Niveau noch sinken könnte, welche Zerstörungen wir würden hinnehmen müssen, können wir nicht wissen; wir können lediglich aufmerksamer werden für das, was ist, was wir beobachten können, und uns selber fähiger machen, mit den Herausforderungen umzugehen.

Wir wissen auch  nicht, welche Entwicklungen die zahllosen gesellschaftlichen Konflikte der Welt nehmen werden und ob es immer die Extremisten des Transhumanismus, wie Schwab und Harari, und des permanenten ‚Krieges aller gegen alle‘ sein werden, die oben bleiben. Je mehr das jedoch der Fall sein würde, desto klarer würde Vielen die Notwendigkeit des völligen Brechens mit allem in uns selber, das uns mit solchen Auswüchsen problematischer Vergangenheiten verbindet.

Eine klare Schlussfolgerung ziehe ich aber doch aus dem bis hierher Ausgeführten:  immer bewusster werden, wie verbunden wir alle sind, wie abhängig das individuelle Leben und Glücksstreben, die Familien, die Kommunen, die Unternehmen, die Staaten und was auch immer, von guter Kooperation sind. Das Prinzip der breiten gesellschaftlichen Nützlichkeit alles Tuns und Lassens ist ein guter Leitgedanke. Auch unsere eigene Geschichte, die Geschichte unseres Landes, wie krumm und zum Teil auch abstoßend sie in vieler Hinsicht gewesen sein mag und noch weiter werden kann,  kann hier viele positive Hinweise geben.

 

 

 

[1] Auch Deutschland verlegte sich bekanntlich schließlich auf Kolonialpolitik, unter der Führung eines expansiven Kapitalismus und Militarismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Zwar waren seine Kolonien von Ausmaß und Wert her bescheiden im Vergleich mit denen der alten Kolonialmächte und auch mit dem Neokolonialismus der USA, doch genügte dieser Versuch einer Neuaufteilung der Welt, um schwerste Konflikte zu aktivieren, zu einem Ersten Weltkrieg massiv beizutragen und drastische Strafen seitens der schlussendlichen  Sieger nach sich zu ziehen.

 

[2] Zu dieser Mittlerstellung kann ich hier nur ein paar Vermutungen äußern: oberflächlich betrachtet, hat sie die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 zu so etwas wie einer Schaukelpolitik zwischen den USA und der Sowjetunion, später Russland, gezwungen. Aber vielleicht kann man die Dinge auch so sehen, dass diese „Supermächte“ ihrerseits gezwungen waren, um nämlich die Nutzung der Exzellenzen Deutschlands für ihre jeweiligen eigenen Machtinteressen nicht zu verlieren, unserem Land Konzessionen machen mussten und große Zerstörungen im Herzen Europas nicht erneut zulassen konnten. Diese Epoche geht nun dem Ende entgegen.

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Wird Deutschland nun doch abgewickelt?