Vorbemerkung
Vor wenigen Monaten erschien in deutscher Übersetzung ein Buch des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang unter dem Titel „Alles unter dem Himmel – Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“. Das Original stammt aus dem Jahr 2016 und wurde von CITIC Press Beijing im Jahre 2016 herausgegeben. Der Verlag gehört zur CITIC Group, einer Investfirma im Eigentum des chinesischen Staates.
Die Worte „Alles unter dem Himmel“ sind die deutsche Übersetzung des chinesischen „Tianxia“. Zhao erläutert diesen wichtigen Begriff der chinesischen Weltanschauung und politischen Philosophie in seiner historischen Entstehung im 11. Jahrhundert vuZ, in seiner Weiterentwicklung in dreitausend Jahren weiterer chinesischer Geschichte und empfiehlt ihn der heutigen Welt. Es handele sich um ein Modell, das auf die heutige Zeit anwendbar sei und angewandt werden sollte als Ausweg aus der vom westlichen Kapitalismus und Imperialismus der Welt aufgezwungenen Chaotik und existentiellen Gefährdung.
Meiner Meinung nach sollte man sich intensiv mit einem derartigen Buch und natürlich auch mit weiteren weltanschaulichen und weltpolitischen Darlegungen aus China auseinandersetzen. Die chinesische Geschichte und die chinesische Kultur haben viele tausende Jahre Entwicklung hinter sich, bereits seit dem 2. Jahrtausend vuZ existieren dort Schrift und Anfänge geschichtlicher Aufzeichnungen, die Produktionsweisen und Gesellschaftsformen haben sich in vielfältigen, effektiven und erfindungsreichen Formen entwickelt. China, das heute bevölkerungsreichste Land der Welt mit 1,4 Milliarden Einwohnern (etwa einem Fünftel der Weltbevölkerung), das Land, das nach einer höchst bemerkenswerten und im Westen oft kenntnislos denunzierten sozialistischen Phase etwa von 1949 bis 1978 sich inzwischen als kapitalistische Supermacht mit globalen hegemonialen Ansprüchen weiterentwickelt, hat der übrigen Welt im Guten wie im weniger Guten Bedeutendes zu sagen.
Ob Zhaos Buch dazu gehört, kann ich nicht beurteilen, aber es tritt zumindest selbst mit dem Anspruch auf, der heutigen Welt den notwendigen Umschwung zu besseren gesellschaftlichen Verhältnissen, zu weniger Chaos und mörderischer kapitalistischer Konkurrenz, zu mehr globaler Stabilität und wechselseitigem Respekt der Kulturen zu erklären. Ich vermute, dass ein derartiges Versprechen weltweit gerade unter den weniger Begünstigten der heutigen noch vom “Westen“ dominierten Weltordnung, und die sind die große Mehrheit der Weltbevölkerung, auf offene Ohren trifft. Aber auch in den bisher noch privilegierten Ländern des „Westens“ sollte man sich intensiv mit der kritischen Stoßrichtung gegen das eigene Erbe, die eigenen Privilegien und mit Alternativen beschäftigen, denn auch hier muss jeder halbwegs aufgeklärte Mensch gleichfalls davon ausgehen, dass sich Grundlegendes ändern muss.
Im Folgenden stelle ich einige Beobachtungen zusammen, zu denen mich die Lektüre von Zhaos Buch veranlasst hat. Es handelt sich nicht um eine kritische Rezension des gesamten, sehr inhaltsreichen Buches, sondern um das Herausgreifen einiger Punkte, an denen die Gegensätzlichkeit der Weltanschauungen besonders deutlich wird – oder jedenfalls die Gegensätzlichkeit einer u.a. vom Konfuzianismus geprägten Weltanschauung, die Zhao zu vertreten sich bemüht, zu „westlichen“ Vorstellungen – wie er sie versteht – und wie ich sie im Licht seiner Angriffe meinerseits zu verstehen mich bemühe.
Der Historiker Jürgen Osterhammel, der u.a. als Mitherausgeber des Projekts „Die Geschichte der Welt“ hervorgetreten ist, hat in der FAZ v. 31.3.2020 eine im Ton wohlwollende, aber inhaltlich deutlich kritische Rezension von Zhaos Buch veröffentlicht, die anregt, den Blick auf aktuelle politische Hintergründe zu richten. Meine eigenen Bemerkungen beanspruchen hingegen nicht entfernt fachwissenschaftlichen Rang, ich versuche lediglich die Art und Weise zu verstehen, in der Zhao selbst den Gegensatz zur westlichen Tradition formuliert und ihr ein positives Gegenbild entgegenzusetzen versucht. Letzteres allerdings, das muss ich vorweg nehmen, hat für mich wenig Gewinnendes.
Zhaos Buch hat nach einer Einführung („Die Neudefinition des Politischen durch das Tianxia“) drei umfangreiche Kapitel. Kapitel 1 befasst sich mit der Geschichte des Tianxia -Konzepts, Kap. 2 heißt „Das in China verborgene Tianxia “ und erläutert 3000 Jahre chinesischer Geschichte im Lichte des Konzepts, und Kap. 3 will die aktuelle Weltbedeutung des – anzupassenden – Konzepts erläutern. Den Abschluss bildet ein „Wörterbuch des neuen Tianxia “, in dem einige Schlüsselbegriffe quasi zum Nachschlagen nochmals beschrieben werden.
Meine Auseinandersetzung mit dem Buch gliedert sich in folgende Abschnitte:
Abschnitt 1: Fragen zur Darstellung des Ursprungs des Tianxia-Konzepts in der Westlichen Zhou-Dynastie bei Konfuzius und bei Zhao
Abschnitt 2: Zhao empfiehlt einer ganzen Welt den zukünftigen Weg, zeigt aber auffallende Wissens- und Verständnismängel über Nichtchinesisches.
Abschnitt 3: Die Anwendung des Tianxia auf die moderne Welt.
Tianxia als neues Ordnungsprinzip der Welt gegenüber der westlichen Demokratie.
„Volksseele“ als letztlicher Maßstab der Werte
Abschnitt 1: Fragen zur Darstellung des Ursprungs des Tianxia-Konzepts in der Westlichen Zhou-Dynastie bei Konfuzius und bei Zhao
In der Darstellung von Zhao war das Konzept des Tianxia in China von der Westlichen Zhou-Dynastie entwickelt worden und ermöglichte ihr seinerzeit, ihre damalige Welt zu einen und angeblich auch zu pazifizieren, im wesentlichen den Raum des nördlichen China und seine Nachbarregionen.
Die Westliche Zhou-Dynastie war eine seit etwa 1050 vuZ für einige Jahrhunderte in der Zentralchinesischen Ebene führende „Dynastie“, d.h. so etwas wie eine herrschende Sippe, jedenfalls ein Verwandtschaftsgeflecht, das unter den damaligen Verhältnissen eine gewisse Zentralisierung unter seiner Führung zustande brachte. Über die Strukturen in Ökonomie und Moral konnte ich wenig finden, und Zhao interessiert sich anscheinend überhaupt nicht dafür. Der große Vorzug dieser Zentralisierung laut Zhao war, dass sie, freilich nach kriegerischer Eroberung des Raumes, nicht in erster Linie auf Zwang, sondern eher auf „freiwilliger“ Einordnung in ein System gegenseitigen Respekts, Lebenlassens und gemeinschaftlicher Riten beruhte, eben des Tianxia -Systems. Das System habe zur Inklusion Aller statt zur Bildung von Feindschaften gegenüber irgendwelchen “Außen” tendiert, eben dazu, “Alles unter dem Himmel” gelten zu lassen.
Die tatsächlichen gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse der damaligen Zeit scheinen bis heute nur wenig erforscht, abgesehen von den Verhältnissen auf der Ebene der politischen Herrschaft, die als eine Art Lehensystem unter einem zentralen Königtum beschrieben werden; die meisten Lehnsfürsten waren Mitglieder der königlichen Sippe. Wie damals aber produziert wurde, wie bspw. die Lage der landwirtschaftlichen und handwerklichen Produzenten war, wird von Zhao gar nicht erst berührt. Solche Fragen scheinen Zhao nicht zu beunruhigen.
In der überaus positiven, die sozialen Fragen der Zeit der Westlichen Zhou ausklammernden Darstellung folgt er kritiklos einer späteren historischen Persönlichkeit namens Konfuzius. Konfuzius lebte im 6. Jh. vuZ, mindestens hundert Jahre nachdem die Westliche Zhou-Dynastie vollends zu einem unwichtigen zeremoniösen Relikt herabgesunken war, und es fragt sich, was er verlässlich über sie wusste; die Sinologie scheint immerhin wenig Zweifel daran haben, dass für ihn die Orientierung an der Westlichen Zhou-Dynastie zentral war. Dieser Denker des 6. Jh. vuZ war ein politischer Rufer in einer unruhigen und sich rasch entwickelnden chinesischen Wirklichkeit, der verlangte, man solle sich auf die Verhältnisse und Lehren der Westlichen Zhou zurückbesinnen und versuchen, die – in der politischen Praxis aussterbenden – Strukturen dieser Vergangenheit wieder zu etablieren.
Dass Zhao den Konfuzius kritiklos als ausschlaggebende Quelle über die Westliche Zhou-Dynastie behandelt, ist ein problematisches Verfahren. Ob bzw. in welchem Maße Konfuzius wirklich über diese Bescheid wusste, müsste zuvörderst geklärt werden. Diese Klärung würde ihrerseits ein gewisses Maß an heutiger wissenschaftlicher Erschließung der chinesischen Gesellschaft in der Zeit der Westlichen Zhou, während ihrer angenommenen Blütezeit (ca. 1050 bis 750 vuZ) voraussetzen. Und selbst wenn man heute zum Ergebnis kommen könnte, dass Konfuzius im 6. Jh. einige wesentliche Tatsachen der Epoche der Westlichen Zhou einigermaßen verlässlich wiedergeben konnte und wollte, müsste doch sein Antrieb, in seiner Zeit ein Zurück zu ihr durchzusetzen, kritisch beleuchtet werden. Immerhin scheint so viel bekannt zu sein, dass Konfuzius mit diesem Anliegen bereits zu Lebzeiten vehemente Kritik hervorgerufen hatte; diese Kritik wäre zu referieren und in ein heutiges wissenschaftliches Bild des Konfuzius einzuarbeiten.
Hat das Tianxia–Konzept denn überhaupt real in der chinesischen Geschichte eine derart einende und stabilisierende Wirkung gehabt, wie sie Zhao ihm zuschreibt? Oder wäre es realistischer es herunterzustufen, bspw. es eher als eine – wenn auch immer wiederkehrende – Propagandaformel eines bestimmten Typs von Reaktionären und Ausbeutern anzusehen? Die Wiederkehr über 2 Jahrtausende hinweg ist ja nicht per se ein Qualitätsbeweis; wenn man im Auge behält, dass in der chinesischen Geschichte über Jahrtausende hinweg bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Beziehungen zwischen dem größten Teil der Bevölkerung, den bäuerlichen Massen und ihren Herrschern trotz vieler Wandlungen sich nicht fundamental verändert haben, könnte man mit einem gewissen Recht vermuten, dass auch zu allen Zeiten dieselben Typen von Reaktionären und Ausbeutern und dieselben Typen von Propaganda immer wieder auftreten.
Die Bauernmassen waren wohl schon unter der Westlichen Zhou-Dynastie und ihren Clanstrukturen eine unterdrückte Klasse; unter den späteren Systemen der Grundherrschaften und nach der Errichtung der zentralen Bürokratie der Kaiserreiche (221 vuZ bis 1910) änderte sich das nicht prinzipiell. Das soziale System Chinas war in diesem Hauptaspekt statisch und zyklisch. Die kaiserliche Dynastie an der Spitze konnte und musste zwar ausgetauscht werden, wenn sie wieder einmal „das Mandat des Himmels verloren“ hatte, oft im Zuge von Aufständen, aber die Herrschaftsform wurde dadurch reproduziert. Für Europäer, deren geschichtliches Selbstbild durch viel tiefer greifende soziale Umstürze und viel stärkeren Wandel der Klassen und der Herrschaftsformen geprägt ist, ist das hohe Maß an Statik, das China bis ins 20. Jh. hinein prägt, nicht ohne weiteres vorstellbar.
Anzunehmen, dass die konfuzianische, mit dem Tianxia -Konzept eng verbundene Propaganda möglicherweise eher eine massenfeindliche, reaktionäre, aber nie von der Geschichte widerlegte bzw. überflüssig gemachte Grundkonstante der Geschichte Chinas sei, wäre etwas grundlegend Anderes als mit Zhao anzunehmen, das Tianxia-Konzept sei der durchgängige, mal offener mal geheimer wirkende positive Grundtenor des politischen Systems.
Auch in der Geschichte Chinas können gewaltige umstürzlerische Kräfte, gesellschaftliche Kräfte, politische Bewegungen, revolutionäre Bewegungen beobachtet werden, die die ererbten und verteidigten und über Jahrtausende relativ stabilen Beziehungen und Ideologien in Frage stellen und ihnen zumindest gewisse Anpassungen abzwingen. Mit oder ohne solche potentiell revolutionierenden Kräfte erscheint die chinesische Geschichte unruhig, instabil und gewalttätig genug. Trotzdem ändert sich dort über die Jahrtausende strukturell letztlich viel weniger als in Europa seit den alten Griechen (mit einigem Recht könnte man die Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens sogar auch zur Vorgeschichte der europäischen Kultur rechnen, und dann wird das Bild noch bunter und dynamischer). Vielleicht liegt in China ein permanentes Überwiegen der Statik über die revolutionäre Dynamik, in Europa das Umgekehrte vor.
Wem würde es denn nun nützen, wenn entsprechend Zhaos Appell sich „der Westen“ zum chinesischen Typ der Entwicklung bzw. Wenigentwicklung, dem Überwiegen der Statik bekehren ließe?
Die Kritik Zhaos an einer ideologisch überhöhten und Konflikte noch verschärfenden „europäischen“ Individualitäts- und Konkurrenzmentalität enthält sicher viele treffende und notwendige Beobachtungen, z. B. betreffs sozialer Ungleichheit, Ausbeutung und politischen Kampfes aller gegen alle, insbesondere aller Staaten gegen alle anderen Staaten. Eine derartige fundamentale Kulturkritik könnte für große Teile der westlichen Bevölkerungen selbst, und vor allem für die Bevölkerungen der zurückgebliebenen Teile der Welt politisch attraktiv werden, indem sie in Frage stellt, ob die enormen Opfer, die mit dem westlichen Grundmodell, dem Nicht-Tianxia, verbunden sind, notwendig sind und ob sie denn vermieden werden könnten, bspw. unter einem Tianxia -System.
Doch welche Opfer bringt eine Gesellschaft unter einer Tianxia–Doktrin mit sich? Vorhersagen verbieten sich, aber der Blick in die chinesische Geschichte könnte zeigen, dass die sog. Statik, die angeblich eher in einem „allgemeinen“ Interesse liegt, nicht weniger oder sogar mehr Verluste fordert, an Menschenleben, an humaner Entfaltung.
Genug der Fragen nun zur chinesischen Geschichte und was Zhao darüber zu wissen behauptet: was weiß er über die westliche Welt?
Abschnitt 2: Zhao empfiehlt einer ganzen Welt den zukünftigen Weg, zeigt aber auffallende Wissens- und Verständnismängel über Nichtchinesisches.
Die Kenntnisse Zhaos über Europa, Geschichte und Denken, muten lückenhaft an, seine Meinungen willkürlich. (Bspw. S. 95, 125, 164)
Ein Beispiel:
Zhao behandelt ( vor allem im 2. Kapitel) ausführlich das Phänomen „Spaltung und Einheit“, den Wechsel zwischen dem Nebeneinander verschiedener historischer Teilstaaten, die der Etablierung des kaiserlichen Gesamtstaates 221 vuZ vorausgegangen sind, wie sie aber in der weiteren Entwicklungen auch immer wieder aufgetreten sind, und den immer wieder neuen Zusammenschlüssen. Dieses Phänomen sei ein „spezifisch chinesisches Problem“, finde sich aber auch in der europäischen Geschichte (164) . Auch wenn man ihm Zuverlässigkeit in dieser Frage der chinesischen Geschichte zutrauen will, muss aber doch sein Vergleich mit der europäischen Widerspruch hervorrufen. „Zur Einheit führte dort [in der europäischen Geschichte, wgr.] unter anderem die Bildung von Imperien, die Hauptursache für Spaltung bildeten die Nationalitäten und die religiösen Fraktionen. Der Drang Europas nach Spaltung übertraf den Wunsch nach Einheit, einer der Gründe dafür ist, dass de Zentripetalkräfte der Nationen und der religiösen Ideen die Einigungskraft von Imperien überwogen. Das alte China kannte keinen Monotheismus, daher fehlte den unterschiedlichen Glaubensrichtungen das Verlangen, die anderen zu dominieren, und ermöglichte es ihnen, sich gegenseitig zu tolerieren. Es gab auch weder Nationalismus noch Rassismus,….“ (164f.)
Zhaos Annahme, Europa habe mehrere Imperien erlebt, überrascht. Wann gab es in Europa Imperien, die es wenigstens teilweise real geeint hätten, sodass dann Spaltungskräfte sich daran erfolgreich hätten abarbeiten können?
Hier kämen die folgenden in Frage:
– Das römische Imperium, das bis etwa 475 uZ im Westen Europas existierte und darüber hinaus noch – als immer noch großes Imperium – mehrere Jahrhunderte im Osten als Byzantinisches Reich sich fortsetzte; dessen geografische Dimension ist allerdings vor allem nicht-europäisch, sodass es nicht mit Kategorien wie „imperiale Einigung Europas und deren Spaltung“ angegangen werden könnte.
– Das von dem Frankenkönig Karl dem Großen (gest. 814) angestrebte erneuerte „Römische Reich“, das allerdings nie einen Grad von Ausdehnung und vor allem von Stabilität erreichte, angesichts dessen es starker Spaltungskräfte zu seinem Untergang bedurft hätte. Es wurde konzipiert, teilweise realisiert und zerfiel lange Zeit, bevor in Europa von Nationen die Rede sein konnte und bevor es mächtige religiöse Spaltungen gab. Im Gegenteil konsolidierte sich unter ihm das Christentum als vereinheitlichende Macht, bspw. durch die Christianisierung der noch im Heidentum lebenden Stämme. Diese Vereinheitlichung des religiösen Glaubens setzte sich in den folgenden Jahrhunderten fort, als Karls politische Vereinheitlichung längst untergegangen war.
– Das mittelalterliche und formal noch bis 1806 sich fortsetzende „Heilige Römische Reich (deutscher Nation)“, das allerdings eher noch weniger als ein zur Einheit führendes Imperium über Europa betrachtet werden kann als das Karls.
Es ist völlig unangemessen, die „imperialen“ Ansprüche der deutschen Könige seit den Ottonen bis zu den Staufern mit der Realisierung auch nur eines partiellen Imperiums im europäischen Raum zu verwechseln. Sie konnte nicht einmal in größeren Teilen Italiens stabile Regierungsmacht erlangen und (die Staufer) verbluteten letztlich an diesem Vorhaben. Die Opposition gegen sie hatte wiederum mit nationalen Gegenbewegungen oder religiöser Spaltung nichts oder kaum etwas zu tun. Es gab in Italien keine Nation oder Teilnationen, und die Einheit des westlichen Christentums war zur damaligen Zeit noch außer Frage.
Dieses „Heilige Römische Reich“ wird dann in der Neuzeit zunehmend zum Habsburgerreich, ein im Vergleich zu Europas Umfang nur sehr partielles, dynastisches Gebiet, das freilich zeitweise (zuletzt im 30jährigen Krieg 1618-48) , unter katholischem Allgemeinherrschaftsanspruch, erfolglos versuchte, sich protestantisch gewordene und politisch längst weitgehend verselbständigte Teilstaaten wieder zu unterwerfen.
Ausgehend von der Tatsache, dass es nur ein einziges Imperium in Europa gegeben hat, das römische, das sowohl Bestand über historisch relevante Zeiträume hatte wie auch eine tatsächliche politische und kulturelle Vereinheitlichung zuwege brachte und schließlich zerspalten wurde, fragt man sich nach der Beziehbarkeit der Zhaoschen Kategorien auf dieses römische Gebilde.
Waren denn „die Nationalitäten“ und die „religiösen Fraktionen“ tatsächlich die Gründe oder wenigstens ein Teil der wirkungsvollen Gründe, dass dieses langlebige und tatsächliche Imperium der Römer zerspalten wurde? Schon die Formulierung dieser Frage bringt die Unangemessenheit des Zhaoschen Bildes von Europa zutage. Es waren keine nach Nationalstaaten strebenden Nationalitäten, die in der Epoche der „Völkerwanderungen“ das römische Imperium auflösten und zerteilten, sondern die wachsende Unfähigkeit des kaiserlichen Systems, das Territorium gegenüber den erobernden Barbaren, vor allem Germanen und Hunnen, zu verteidigen. Das gelang im Westen nicht, jedoch im Osten, sodass das römische Imperium als Ostkaisertum weiterlebte – aber nicht als Ergebnis einer Spaltung aufgrund nationaler und/oder religiöser Herrschaftsansprüche, sondern als Ergebnis einer von äußeren Kräften (den Germanen, Hunnen etc.) hervorgerufenen Reduzierung des Territoriums.
War es nun die Zentripetalkraft einer religiösen Idee, die die Abspaltung des Ostens antrieb? Nein, denn das Christentum war dem zerfallenden Westen und dem sich erhaltenden Osten gemeinsam, es bildete im Gegenteil eine lange Zeit weiter bestehende und nicht wirkungslose Klammer der – politisch getrennte Wege gehenden – Teile, eine Klammer, die erst mit der späteren zunehmenden kulturellen und an die politischen Widersprüche gebundenen religiösen Differenzierung an Bedeutung verlor (z.B. im kirchlichen West-Ost-Schisma 1054).
Das von Karl angestrebte neuzugründende Heilige Römische Reich wurde niemals zu einem europäischen Imperium; vielleicht war es so etwas wie ein – sehr kurzlebiges – Imperium über Teile von Europa. In der Enkelgeneration Karls kam es bereits zu einer dynastischen Dreiteilung und der östliche Teil, aus dem sich im weiteren Deutschland herausbildete, trat ab dem 10. Jahrhundert weitgehend erfolglos als Erneuerer Karlscher imperialer Ambitionen auf; die anderen Teile, das Mittelreich, zunächst Lotharingien genannt, und das Westreich, aus dem im weiteren Frankreich hervorgehen sollte, erbten meines Wissens die Karlsche Ambition von vornherein nicht.
Angesichts dieser dynastischen Dreiteilung fällt es sehr schwer, im Zhaoschen Sinne von nationalistischen oder religiösen Antrieben zu sprechen. Zunehmend „deutsch“ geprägt, bildete der östliche Teil erst so etwas wie die Anfänge einer deutschen Nation heraus, indem er nach und nach die Stämme einte, die der späteren deutschen Nation vorausgingen; ebensowenig waren das Mittelreich (Lotharingien) und das Westreich zu dieser Zeit Nationen. Im Ostreich kam es dann zur Amalgamierung des von Karl ererbten Universalanspruchs mit führenden aristokratischen Gruppierungen dieser sich gerade erst herausbildenden deutschen Nation.
Wäre es nun angesichts dieser Entwicklung angemessen, der Zhaoschen Kategorisierung zu folgen und die Nationalitäten und die religiösen Fraktionen als die Spaltungsfaktoren zu identifizieren, die die Karlschen Herrschaftsgebiete daran hinderten, ein einheitliches Imperium zu werden? Religiöse Fraktionen, d.h. verschiedene Glaubensrichtungen und –organisationen, kennt die Karlsche Zeit nicht. Es gab zwar noch Heidentum, dessen Träger sich aber im Verlauf der Jahrhunderte zu Christen wandelten und so die religiöse Einheit selbst mit beförderten, und innerhalb des Christentums entstanden zwar naturgemäß ständig neue Differenzen, die u.U. als Häresien ausdefiniert und ausgeschlossen wurden. Erst viel später kommt es zur Spaltung des Christentums in der Reformationszeit, die (da kann man Zhao folgen) auch für politische Spaltungen starke Antriebe hervorbrachte – aber als dies geschah, nach 1517, war ein imperialer Anspruch in Europa im Grunde fast erloschen, wenn auch das „„Heilige Römische Reich deutscher Nation“ noch formal existierte. Von tatsächlicher imperialer Führung Europas zu sprechen, oder überhaupt von politischer Einheit Europas zu sprechen, ist angesichts der neuzeitlichen Geschichte hochgradig unangemessen. Man könnte daher auch nur verkrampft davon sprechen, dass die Kirchenspaltung durch die Reformation(en) ein Imperium zerspalten hätten.
In den letzten vier Jahrhunderten kann man in Europa überhaupt nicht mehr, vielleicht mit der kurzlebigen Ausnahme der Napoleonischen Eroberungen, von imperialen Bestrebungen sprechen, die die Einheit des Kontinents zum Ziel gehabt hätten.
Fazit: der Mann hat keine Ahnung von europäischer Geschichte. Er versucht ihrer mittels der Grundkategorie Einheit-Spaltung, die er aus der chinesischen Geschichte ableitet und die dort anscheinend Substantielles trifft, analytisch Herr zu werden, bzw. sich als den Philosophen zu präsentieren, der über die richtigen Kategorien verfügt; doch weil er das Material kaum kennt, dessen Analyse präsentieren zu können er sich in Szene setzt, ist diese uninteressant. Sie dokumentiert vielleicht unfreiwillig einen Sinozentrismus, d.h. die Neigung, an fremde Verhältnisse mit einem Werkzeugkasten heranzugehen, der zwar an den reichen chinesischen, im Vergleich zur Weltfülle aber doch auch engen chinesischen Verhältnissen entwickelt wurde und für andere nicht passt.
Ich übergehe ansonsten das 2. Kapitel, in dem der Autor das Weiterwirken der Tianxia-Idee in der chinesischen Geschichte bis zum Zusammenbruch der letzten kaiserlichen Dynastie im Jahre 1910 nachzeichnen möchte.
Abschnitt 3: Die Anwendung des Tianxia auf die moderne Welt.
Von allgemeinerem Interesse ist nun wieder das 3. Kapitel, das sich mit der Möglichkeit und der Notwendigkeit – in Zhaos Sicht – befasst, das Tianxia -Modell zur Lösung der Grundkonflikte der globalisierten Moderne anzuwenden.
Das 3. Kapitel macht einige Umwege, bevor Zhao die Frage direkt behandelt. Diese Umwege muss ich jedoch referieren, um den Gehalt der Schlussfolgerungen verständlicher zu machen.
Es beginnt mit einer merkwürdigen Erörterung des Themas „Weltgeschichte“. Hieraus einige Zitate:
„‘Weltgeschichte‘ ist ein fragwürdiger Begriff. Die Menschheit hat die ‚Welt als Welt‘ (eine Paraphrase zu Guanzis ‚ das Tianxia als Tianxia ‘ ) noch nicht geschaffen, daher existiert die Welt als Welt noch nicht. Unter diesen Umständen ist ‚Weltgeschichte‘ eine irreführende Fiktion.“ (181)
„Die Welt .. ist noch keine durch das Weltinteresse definierte Welt, an der alle Menschen teilhaben können.“
Auf Antworten auf die Frage einer bewusst im Weltinteresse [was soll das sein?] und in Übereinstimmung damit politisch zu organisierenden Welt lässt Zhao zunächst noch etwas warten und befasst sich erst einmal mit der Welt-Geschichtsschreibung. Da die Welt – in seinem politischen Verständnis als Tianxia – noch nicht existiere, habe es bisher auch keine Weltgeschichtsschreibung geben können, sondern nur von europäischen imperialistischen Ausbeutungsinteressen geprägte „Narrative“.
„In der Vormoderne hatte jeder Ort seine eigene Geschichte. Die modernen Bewegungen des Kolonialismus, der Erschließung überseeischer Märkte und des Imperialismus verbanden scheinbar die verschiedenen Orte der Welt, die unterschiedlichen Historien … der einzelnen Orte wurden durch die europäische Geschichte zu einer ineinander verwobenen Geschichte zusammengesetzt, jedoch wurde daraus keine Weltgeschichte, sondern nur die Geschichte der Expansion von Europas Einfluss.“ (181)
Das ist Unsinn. Die internationale Geschichtswissenschaft, die europäische eingeschlossen, die US-amerikanische und einige andere Zweige haben nicht erst seit heute ganz andere Dinge geleistet als Weltgeschichte im europäischen expansionistischen Interesse zu verdrehen.
Aus diesen fragwürdigen Abqualifizierungen springt der Autor rasch wieder weg, zum Thema, wie die Globalisierung statt einer „Welt der Teilhabe aller“ eine „gescheiterte Welt“ produziere, Chaos, Verlust der Zukunft, unkontrollierbarer Zustand….
Zur fragwürdigen Methodik dieses Abschnitts gehört das mehrfache Springen von der Frage der faktischen politischen Welt-Einheit zur Frage der Welt-Geschichtsschreibung.
Meint Zhao , die Geschichtsschreibung bringe die reale Geschichte hervor? Folgt aus dem – für ihn feststehenden – Sachverhalt, dass eine eurozentristische, kolonialistische und imperialistische Geschichtsschreibung das gängige Basismodell der Weltgeschichte sei, die heutige Globalisierung?
Hier scheinen sich mehrere Widersprüche zu verknäulen.
- Einer davon betrifft das Verhältnis zwischen weltumwandelnder Aktivität, bspw. des früheren europäischen Kolonialismus, zum Geschichtsbewusstsein, oder allgemeiner den Vorstellungen über die Welt, bei seinen Akteuren.
- Ein weiterer wäre, wie die kolonialistischen Erfahrungen der Europäer wiederum deren Weltbewusstsein, im engeren Sinne deren Geschichtsideen und in noch engerem Sinne die Geschichtsschreibung Europas beeinflusst hätten.
- Ferner: wie haben der europäische Kolonialismus und Imperialismus die Weltvorstellungen, das Geschichtsbewusstsein, die Geschichtsschreibung der Kolonisierten beeinflusst?
- Gibt Zhao Konkretisierungen seines Postulats, dass man die Welt als Ganzes, als Souverän ihrer eigenen Entwicklung, bzw. die Menschen der Weltbevölkerung als gleichberechtigte Mitgestalter der Weltentwicklung zu sehen habe und die entsprechenden politischen Institutionen schaffen müsse? Wie kommt die Welt dazu, sich als Subjekt zu verstehen und souverän zu handeln?
Zu 1. und 2.:
Es gibt selbstverständlich engste Beziehungen zwischen mentalen Prägungen der europäischen ‚Welteroberer‘, Abenteurer, Forscher, Kolonisatoren, Imperialisten, der dahinter stehenden Staaten und Firmen etc. , und ihren Aktivitäten; ihre geschichtlichen, kulturellen und auch geografischen Vorstellungen bilden – wie auch immer – essentielle Komponenten ihrer Handlungen. Diese Vorstellungen aber zum entscheidenden Beweggrund zu erklären, etwa so als ob bestimmte vorwissenschaftliche, einseitige, abergläubische, eigensüchtige, rassistische etc. Ideen über Geschichte und Welt, m.a.W. eine mit solchen Mängeln behaftete Geschichtsschreibung, diese Welterschließer auf die Meere, die Gebirge und durch die Dschungel getrieben hätten, das mutet doch eigenartig an. Wirtschaftliche Motive, Handelsinteressen, Interessen an der Ausbeutung von Mensch und Natur der außereuropäischen Welt, auch Wissens- und Forscherdrang, Christianisierungsimpulse etc. sind hier erstrangig im Spiel.
Bei Zhao scheint hier eine Vorstellung die Feder zu leiten, die partikular-egoistische Geschichtsschreibung der europäischen Heimatländer bilde mit der realen Geschichte der Globalisierung das entscheidende Wechselwirkungspaar. Eine derartige Vorstellung leidet unter einer Übergewichtung des Bewusstseins über das Sein.
Vielleicht spielt dabei eine kulturelle Tradition Chinas eine Rolle, nämlich dass Politik und Verwaltung des Kaiserreichs von Literatenbeamten geleistet wurden. Dies waren über mehr als ein Jahrtausend hin Menschen, die zwar die Geschichte des eigenen Landes aus dem staatlich abgeprüften gehorsamen Umgang mit einem bestimmten Kanon von Literatur des eigenen Landes kannten, aus absolut chinazentrierten Geschichtsdarstellungen und bestimmten weltanschaulichen, bspw. konfuzianischen Schriften, sonst aber auch nichts, und bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten tief von diesem spezifischen Geschichtsbewusstsein geprägt waren. Wenn Zhao aber bei den westlichen Kolonialisten und Imperialisten eine diesem spezifisch chinesischen Verhältnis zwischen Geschichte schreiben und Geschichte machen analoge Intensität unterstellt, begeht er einen ähnlichen Fehler, wie er ihn dem Westen vorwirft, nämlich eigene kulturelle Automatismen für Weltgesetze zu halten.
In Europa ist das Verhältnis zwischen der realen Erkundung und Eroberung der Welt und ihrer wissenschaftlichen, geografischen und historischen Beschreibung kompliziert, jedenfalls aber anders als in China und anders, als es Zhao hier den Europäern unterstellt.
Das hat mit dem andersartigen Verhältnis zwischen Wirtschaft, Politik etc. einer-, den Wissenschaften andererseits zu tun. Prinzipiell haben Wissenschaften in Europa größere Autonomie gegenüber Wirtschaft, Politik etc.. Es ist elementarer Bestandteil des europäischen kulturellen Selbstverständnisses spätestens seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dass die Wissenschaften, auch die historischen, sich nach ihren eigenen Gesetzen entwickeln müssen und die zweifellos fast nie vermeidbaren Bindungen an Macht, Geld, Religion etc. aufgedeckt werden müssen. Solche Bindungen bestehen nicht nur traditionellerweise, sie wachsen auch permanent neu, aber sie müssen auch permanent kritisch aufgedeckt und neutralisiert werden, sonst kann von Wissenschaft nicht die Rede sein – so etwa das Prinzip.
Die geografischen und historischen Wissenschaften Europas entwickeln sich seit dem Beginn der Neuzeit, eingeleitet durch die weltweiten Fahrten, Eroberungen und Handelsverbindungen zunächst der Spanier und Portugiesen, später der Niederländer und Engländer, in enger Verbindung mit der kolonisierenden und erobernden Praxis und sind dementsprechend von diesen materiellen Interessen zunächst stark geprägt; man erlebte dabei auch die Unterlegenheit der meisten Teile der Welt, zu denen man solche Beziehungen herstellt, zunächst vor allem in militärischer Beziehung, und entwickelt entsprechende Überlegenheitsattitüden, Rassismus etc., , religiösen Bekehrungseifer…
Doch das ist nicht das gesamte Bild.
Innerhalb der europäischen Wissenschaften entwickeln sich nämlich nach und nach auch Tendenzen, die Eigengesetzlichkeiten der außereuropäischen Welt, ihrer Gesellschaften und Kulturen zur Kenntnis zu nehmen, ihre Werte oder Teile derselben schätzen zu lernen und sie alle parallel zur eigenen Wirklichkeit wissenschaftlich zu erfassen. Ein Beispiel ist die Chinabegeisterung, die in der Aufklärungszeit manche europäische Gelehrte erfasst und zur Anerkennung geführt hat, dass dort eine hochstehende Kultur, eine der eigenen nicht unterlegene, allerdings auch andersartige Gesellschaft existiert. Von einer entsprechenden wertschätzenden Kenntnisnahme Europas, die sich in China damals quasi spiegelverkehrt entwickelt hätte, kann keine Rede sein. Dafür fehlten dort alle Grundlagen. Im 20. Jahrhundert hat in dieser Hinsicht allerdings Änderung eingesetzt.
Ein grundlegender Zug der so sich fortbildenden europäischen Wissenschaften besteht in der historischen, geografischen und philologischen Erforschung prinzipiell aller zugänglich werdenden Zonen. Ein typischer Fall: Napoleon importiert bei seinem Zug nach Ägypten verschiedene Wissenschaftler, die Grundsteine der Ägyptologie legen und damit den Ägyptern selbst überhaupt erst die eigene Geschichte erschließen. Den kolonisierten Völkern bringt der europäische Kolonialismus nicht nur Ausbeutung und Hemmung, sondern auf der anderen Seite auch den Impuls und Werkzeuge zur Erschließung der eigenen Geschichtlichkeit, und damit Grundlagen der eigenen späteren antikolonialen Emanzipation. Anders als in China mit seinem ausgeprägten eigengeschichtlichen Bewusstsein ist Bewusstsein von Geschichte in Afrika, in Großteilen der islamisch geprägten Welt, auf dem amerikanischen Kontinent zu Beginn der Kolonisierungen nicht oder kaum vorhanden. Man kennt die eigene Geschichte nicht – außer in mythischen oder poetischen Formen; in Afrika vor allem aufgrund des allgemeinen kulturellen Niveaus nicht, in der islamischen Welt nicht aufgrund ihrer vom Klerus und den Dynastien schließlich erzwungenen Anti-Wissenschaftlichkeit und der damit verbundenen allgemeinen Stagnation.
Zhaos Kritik an der Verbindung der „europäischen“, d.h. implizit eigentlich auch der US-amerikanischen Geschichtswissenschaft mit dem imperialistischen Egoismus trifft zu, aber sie erfasst eben bedeutende andere Seiten dieser Wissenschaft nicht. Es geht nicht nur darum, dass sie die entscheidende Initiatorin der möglichst vorurteils- und interessefreien Erfassung der außereuropäischen Welt ist und dieser damit erst entscheidende Impulse zur Herausbildung eines modernen Selbstbewusstseins vermittelt hat, sondern auch darum, dass in dieser Entwicklung durchaus und nicht erst seit der heutigen Globalisierungswelle immer wieder Normen sich entwickelt haben, eine Geschichte des Weltzusammenhangs unter strenger Abgrenzung von kolonialistischen Vorurteilen zustande zu bringen.
Zhao behauptet, die „europäische“ Geschichtsschreibung bringe es nur zu einer Zusammensetzung der verschiedenen außereuropäischen „Geschichten“ als Geschichte der Expansion Europas. Das mag für Tendenzen früherer europäischer Weltgeschichtsschreibungen zutreffen, ist aber längst nicht mehr alleinbestimmend. Und vielleicht ist „Zusammensetzung“ zunächst unumgänglich, zumal in den außereuropäischen Geschichtsvorstellungen bisher weniger Drang zur wissenschaftlichen Bewusstmachung des Weltzusammenhangs festzustellen war (das gilt auch für China) als in den europäischen. Aber um ein Bewusstsein der Welt als historischer Einheit zu gewinnen, das ausreichend weit über die von Kolonialismus und Imperialismus hergestellte Einheit hinausgeht, dazu musste man nicht erst von Zhao mit der Nase gestoßen werden auf Vorstellungen wie das Tianxia der Westliche Zhou-Dynastie. Dieses Tianxia wurde seinerzeit jedenfalls nur für deren innerchinesischen Herrschaftsbereich konzipiert, nicht für eine größere und andersartige Welt, und ob Tianxia – Prinzipien für diese geeignet sein könnten, dafür bleibt Zhao den Beweis schuldig.
Wie sollten Weltgeschichtsschreibung und politische Ordnung der Welt nun heute umgestaltet werden, wenn wir Zhao fragen?
„Eine wirkliche Weltgeschichte muss eine Weltordnung als Ausgangspunkt haben und vom Zusammenleben der Menschen erzählen. Weltordnung kann nicht die Ordnung einer von irgendwelchen Hegemonialstaaten oder Bündnissen mächtiger Staaten beherrschten Welt sein, sondern nur die Ordnung einer Weltsouveränität, der das gemeinsame Wohl der Welt als Richtschnur dient – d.h. nicht Spielregeln, die ein Staat für die Welt aufstellt, sondern die von der Welt für sämtliche Staaten aufgestellt werden.”
Die kritische Wendung gegen eine Weltordnung, die von hegemonialen Mächten beherrscht wird, kann wohl jeder Leser mit vollziehen; aber wie soll „die Welt“ eine Ordnung für sämtliche Staaten einschl. der Hegemonialmächte aufstellen? Nach dem Muster der Westlichen Zhou-Dynastie? Zhao hebt an deren Entstehung, an der Entstehung der Tianxia -Idee hervor, dass die Zhou, aus einem relativ schwachen und am Rande liegenden Staat kommend, die chaotischen Verhältnisse der niedergehenden Shang nutzten, um sich deren Territorium anzueignen, nicht nur indem sie militärisch erfolgreich vorstießen, sondern vor allem indem sie die unzufriedenen bisherigen Untergebenen der Shang mit dem Versprechen künftiger relativer Gleichberechtigung und einer mehr ritualförmigen Anerkennung ihrer Ordnungsmacht für sich gewannen.
Die Analogie liegt auf der Hand: könnte das heutige China, bisher eher schwächerer Randstaat der ‘in Anarchie versinkenden Weltordnung‘, mit dem Versprechen eines neuen Tianxia , der Anerkennung aller nebeneinander und ihrer Wachstumsbedürfnisse je nach ihren eigenen Regeln, und einer eher formellen, kulturellen Oberhoheit die neue Weltordnung herbeiführen? (s. S. 188)
Tianxia als neues Ordnungsprinzip der Welt gegenüber der westlichen Demokratie. „Volksseele“ als letztlicher Maßstab der Werte
Im Folgenden mache ich einige Bemerkungen zu Zhaos Erörterungen, auf welche Weise die heutige Welt gemäß Tianxia -Prinzipien umgestaltet werde könnte. Die Kritik an ungeeigneten Traditionen und Ideologien des Westens nimmt für Zhao dabei großen Raum ein.
Das Tianxia -System sei das „konzeptionelle Experiment“ einer Weltpolitik gewesen, die Vorankündigung einer Weltgeschichte (183). Woran liege es, dass „die Welt noch nicht zum Tianxia werden konnte“? Im wesentlichen daran, dass Politik bisher nur in Staaten, nicht in einer Welt als politischem Subjekt organisiert sei, dass Staaten prinzipiell gegeneinander stritten und nicht in der Lage seien, dauerhaft zu friedlichen und sicheren Regelungen untereinander zu kommen. Auch der mächtigste Einzelstaat könne in einer zerstrittenen und unkooperativen Welt nicht Sicherheit und Entwicklung garantieren. (183)
Der Kritik an internationalen Rivalitäten können wohl wiederum die meisten Leser zustimmen, doch wenn Zhao im weiteren heutige globale Machtfaktoren (Finanz, neue Medien und „andere technologische Systeme“ , s. S. 222) als mögliche Vehikel eines neuen Tianxia benennt, die zur Vermeidung größten Unheils ihrerseits einem spirituellen Tianxia unterstellt werden müssten, das dann den allgemeinen Nutzen fördern werde, dann wird es schwieriger ihm zu folgen.
Zunächst wendet sich Zhao aber früheren Ideen über die Weltordnung zu, um Tianxia davon positiv abzuheben.
Kant habe in seiner Schrift zum „ewigen Frieden“ die Vorstellungen, es könne zu einem Weltbürgertum, einer Weltrepublik kommen, verworfen und als höchstes realistischerweise anzustrebendes Ziel eine Föderation freier, d.h. republikanischer Staaten benannt.
Die heutige, seit Kants Zeit weiterbestehende und mit weiteren neueren Elementen angereicherte Unmöglichkeit, zu mehr als bloß regionalen Föderationen zwischen Staaten ähnlicher Kultur etc. (s. EU) zu kommen, wird dann von Zhao ausgemalt und insbesondere mit der Frage von Zivilisationskonflikten (wie sie Huntington aufgeworfen habe) weiter aufgeladen. Auch die „Diskurstheorie“ (Habermas wird hier von Zhao benannt) sei ungeeignet, weil völlig naiv. Carl Schmitt vertrete ein Freund-Feind-Denken. Dann kommt Rawls zur Sprache, der „modernen Neoimperialismus pur“ vertrete (194), und schließlich die UN, die aber kein Modell der Weltverwaltung seien, weil sie nicht über das System souveräner Staaten hinausgehen könnten – das für Zhao die Quelle des internationalen Unfriedens und der Ausbeutung der Schwachen durch die Starken ist. (195)
Die „Grundlagen für die künftige Entwicklung eines Tianxia -Systems liegen in Zhaos Erwartungen vielmehr
„in den wirklich einflussreichen Mechanismen und Institutionen des globalen Finanzsystems, der Systeme der Hochtechnologie und den sozialen Medien“.(196)
„Die vorrangige Frage der künftigen Welt lautet aber natürlich, wie man die Logik politischen Handelns und die Art und Weise politischen Denkens ändert. Ohne eine geistige Revolution wird eine materielle Revolution die Welt nur in einen noch gefährlicheren Ort verwandeln.“ (196)
S. 235f. detailliert Zhao solche Vorstellungen. Zuvor hat er Kritik zurückgewiesen, sein Tianxia sei womöglich eine Pax Sinica. Das heutige China sei ein souveräner Staat, kein Tianxia , Argwohn gegenüber dem heutigen China könne daher keine Zweifel am Tianxia-System begründen. (235). [Allerdings hatte er zuvor sein ganzes zweites Kapitel unter der Überschrift „Das in China verborgene Tianxia “ geschrieben.]
Wem wird das Tianxia der Zukunft gehören? fragt Zhao rhetorisch (235), um jegliches Streben nach partikularem Nutzen streng zu verurteilen. Man solle nicht auf „‘irgendjemandes Tianxia ‘“ hoffen, diese Frage sei von der politischen Logik der Moderne inspiriert, die aber an Geltung verliere. In der politischen Logik der Moderne erscheine es „zwangsläufig, dass irgendein mächtiger Staat oder ein Volk im globalen Konkurrenzkampf obsiegen und eine von ihm dominierte Weltordnung etablieren wird.“ (235f.) Die Macht der politischen Entität Staat sei jedoch im Schwinden:
„Eine aufstrebende Macht neuen Typs, die systemische Macht, wird mittels globaler Systematisierung allmählich die Kontrollmacht und Dominanz der Staatenvielfalt ablösen. Dieser systemischen Macht wird vermutlich in Zukunft die reale politische Macht über die Welt gehören und die Staaten werden lediglich als ihre Agenten fungieren. Es ist nahezu auszuschließen, dass die künftige Welt zum System einer Hegemonialmacht wird, sie wird im Gegenteil das Ende der Hegemonialsysteme bedeuten. Daher – und hier betreten wir den Bereich der Spekulation – wird das neue Tianxia -System vermutlich eine auf die globalen Systeme gestützte Überwachungs- und Regulierungsmacht begründen, insbesondere zum Schutz und zur Regulierung des globalen Finanzsystems, das globalen gemeinsamen Internets und der von allen benutzten technologischen Systeme. Das antike Tianxia -System der Zhou-Dynastie ist ein netzförmiges System der Überwachung und Kontrolle der Vasallen- und Lehnstaaten durch den Staat des Monarchen. Gemäß der evolutionären Logik der Gene dieses Systems unter den Bedingungen der Globalisierung wird das neue Tianxia -System möglicherweise das Netzwerk der globalen Systeme durch eine Institution in gemeinsamem Weltbesitz überwachen und regulieren.“ (236)
Welcher Art nun diese geistige Revolution sein soll, bespricht Zhao unter Hinzuziehung zahlreicher Kritiken an Prinzipien der Daseinskonkurrenz und ihrem religiösen Überbau, an kulturellen Konflikten, wie sie z.B. im Monotheismus angelegt seien. Diesen werden Prinzipien der Nutzenteilung und der religiösen Toleranz gegenübergestellt.
Welche Kategorien untersucht er hier?
Unter „Zwei Arten der Externalität: die natürliche und die konstruierte“ (196) schreibt Zhao, die Konflikte mit dem natürlichen Außen seien nicht zwangsläufig Konflikte auf Leben und Tod, sondern könnten durch Modelle der Nutzenteilung gemildert werden. Hobbes habe die hegemoniale Ordnung favorisiert, in der der Starke die Außenstehenden ihr unterwirft. Xunzi (ein konfuzianischer Denker des 3. Jahrhunderts vuZ) hingegen habe darauf gesetzt, Außenstehenden Vorteile durch Kooperation zu versprechen und sie damit zu internalisieren.
Beide Logiken existieren lt. Zhao real gleichzeitig in der Welt, die Tendenz gehe aber hin zu „wechselseitig referentiellem, teilbarem Wissen“ zwischen den Staaten. (198) Durch Zusammensetzungen kapitalistischer und sozialistischer Elemente seien mittlerweile hybride Elemente entstanden, in USA, China, Europa. Man bewege sich allmählich auf eine „‘rationale‘ Art der Verteilung“ zu, und rationale Systeme ähnelten einander „immer partiell“. Kooperation wachse je mehr die Existenzprobleme zunähmen, während in nicht-existentiellen Problemfeldern sie verweigert werde. (198f.)
Während die aus Konflikten der „Daseinskonkurrenz“ entstehenden Konflikte in dieser Weise auszugleichen seien, werde es mit den „konstruierten“, in religiösen Formen ausgetragenen Konflikten schwerer:
„Die am schwersten zu schlichtenden, sogar unversöhnlichen Konflikte entstehen häufig aus kulturellen Konflikten, die mit der Daseinskonkurrenz in keinem direkten oder überhaupt keinem Zusammenhang stehen. Das erinnert an die Ansichten Huntingtons.“ (199)
An sich bedeuteten kulturelle Differenzen keine tödlichen Bedrohungen der eigenen Existenz. Sie gehörten nicht zur „natürliche Externalität“, könnten aber fallweise zu „konstruierter Externalität“ werden.
„Wie es dazu kam, dass die Beziehungen zwischen den Kulturen in wechselseitige Feindseligkeit umschlugen, ist eine zu klärende Frage.“ (199)
Dabei nimmt Zhao das Christentum scharf ins Visier. Der Monotheismus des Christentums – den Islam erwähnt Zhao nicht – wird folgender Kritik unterzogen: „Feindseligkeit gegenüber Fremdkulturen benötigt zumindest zwei Elemente der Abstoßung des Anderen: 1. Dogmatismus……2. Das Recht auf alleinige Verehrung“ (200) „Unter den zahlreichen Kulturen findet sich nur in monotheistischen Religionen die Forderung nach kulturellem Dogmatismus und alleiniger Verehrung.“ (200)
„Das Christentum ist die Grundlage dessen, was im Westen für die ‚universale Zivilisation‘ gehalten wird, und die wahre Ursache für die Entstehung kultureller Feindseligkeit.“ (200)
„Nachdem das Christentum die griechische Zivilisation unterworfen hatte, bildete der Westen eine Kampf-Logik der Identifizierung des Heidentums aus und betrachtete die Welt als kriegerische Stätte antagonistischer Widersprüche.“ (201)
„Im Namen der Mission, die Welt zu unterwerfen, vernichtete es die apriorische Integrität des Begriffs der ‚Welt‘. Die Welt verlor die ihr eigene Sakralität und wurde zum Kampfplatz der universalen Verwirklichung des Christentums. Mit anderen Worten, die Welt verlor ihren Subjekt-Charakter und wurde ausschließlich zum Objekt.“ (201)
„Die christliche Theologie wurde später in extensiver Weise für alle möglichen säkularisierten Varianten verwendet.“ (201)
„Mit Hilfe der theologischen Logik des Monotheismus eine politische Logik zu kreieren und davon ausgehend ein kulturelles Außen zu konstruieren, unversöhnliche Feindschaften zu anderen Kulturen zu etablieren, zeugt von politischer Unreife. Nur Politik auf der Grundlage der Schaffung von Kompatibilität ist wahre Politik, Politik auf der Grundlage von Universalität dagegen ist bloße Herrschaft, Herrschaft ohne Politik.“ (201f.)
„Die Politik bedient sich zwar der Macht, aber Macht ist nicht ihr Ziel, ihr Ziel ist die Schaffung einer kompatiblen Daseinsordnung, die die Schöpfung wachsen und gedeihen lässt. Die Politik muss dem Himmel entsprechen, nicht einem Gott.“ (202)
Es folgt eine längere quasi-theologische Auslassung über Sakralität, die der spirituellen Welt jeder Kultur eigen sei (zu Sakralität auch 236-8). Zhaos Theologie bewegt sich im traditionellen halb-animistischen chinesischen Rahmen:
„Eine spirituelle Welt besitzt ihre sakralen Berge und Flüsse, ihr sakrales Territorium, ihre sakrale Vegetation und zudem ihre historischen Erzählungen und Persönlichkeiten….Die jeder spirituellen Welt innewohnende Sakralität verleiht ihr eine unüberwindliche Transzendentalität.“ (202)
Anscheinend unternimmt Zhao hier einen Versuch, die traditionelle chinesische Nicht-Transzendentalität in Transzendentalität umzudeuten.
„Der tiefe Sinn des vom Herzog von Zhou geschaffenen Systems der Riten und der Musik lag vermutlich darin, durch Ehrerbietung vor den Details des Lebens diesem und der Schöpfung der gesamten Welt Sakralität zu verleihen. Die Sakralität der Schöpfung ist nicht Gottes Werk, sondern entspringt der Ernsthaftigkeit des Lebens. …Respekt vor der Schöpfung bedeutet Respekt vor Himmel und Erde, das ist die Übereinstimmung des Dao des Menschen mit dem Dao des Himmels, daher besitzt das menschliche Leben Sakralität.“ (238)
Diese Gegenüberstellung ist mE doch kommentarbedürftig. In der christlichen Religion bedeutete Transzendenz, dass es eine göttliche bzw. himmlische Welt gibt, die der vorfindlichen Welt übergeordnet ist, auf sie einwirkt und die Menschen dazu verpflichtet, die vorfindliche Welt der himmlischen ähnlicher zu machen, die vorfindliche in Frage zu stellen und ihr ständige verbessernde Umwandlungen in Richtung auf eine göttliche Existenz angedeihen zu lassen. Dies ist vor allem eine ethische Doktrin. Später, bei Kant, bedeutet Transzendenz, nach den letzten Voraussetzungen unseres Lebens zu fragen, nach Voraussetzungen und Grenzen unseres Erkennens, nach der Fundierung von ästhetischem Empfinden und Ethik. In der philosophischen Weiterentwicklung des 19.Jahrhunderts wird Transzendenz dann zunehmend abgeworfen, man wendet sich den positiven Wissenschaften und den sozialen Verbesserungen um der Menschen willen zu – aber der Impuls, der unbefriedigenden vorfindlichen Welt Vorstellungen einer besseren gegenüberzustellen und an deren Verwirklichung zu arbeiten, lebt quasi säkularisiert weiter.
Im chinesischen Denken scheinen sowohl die traditionelle religiöse Dimension, als welche im Westen Transzendentalität zunächst entwickelt worden war, wie auch die späteren säkulareren Fortsetzungen relativ schwächer entwickelt zu sein. Hier geht es, wie Zhao das sehr deutlich ausdrückt, um die Sakralisierung des Bestehenden. Wenn diese als eine Art Ehrfurcht vor der Natur verstanden wird, können es auch Nichtchinesen wahrscheinlich ganz gut mitvollziehen; wenn es aber dieser Sakralität darum ginge, Sozialordnungen der Permanenz von Oben-Unten-Verhältnissen zu rechtfertigen (was man an Konfuzianismus und Daoismus konstatieren kann), oder, um es direkter auszudrücken, die elenden Verhältnisse der Mehrheit der Menschen und eine Quasi-Naturgegebenheit von Herrschaft zu sakralisieren, erscheint Zhaos Hymnus bedenklich.
Umso mehr, wenn man seine Attacken gegen „Fortschrittsglauben“ und „Demokratie“ mit heranzieht, die sich mehrfach finden. Tianxia und Konfuzianismus, aber auch Daoismus sorgen sich um ewig gleichbleibende „Daos“ von Mensch und Natur, wobei durchaus Vitalität und Variabilität erwünscht sind, so Zhaos Darstellung. Wenn man aber an Fortschritt und Demokratie interessiert ist, bleibt nichts gleich auf die Dauer. Diese Kraft wurde vor allem im Westen entwickelt.
Allgemeine Kennzeichen der Zhaoschen Sicht:
Zhao versteht vom Westen wenig, greift aber geschickt Schattenseiten auf, die namentlich der heutige globalisierende, finanzialistische neoimperialistische Kapitalismus des Westens zeigt; allerdings werden die im Westen durchaus seit langem scharf kritisiert, man denke an Marx und seinen universellen Humanismus.
Am chinesischen System, sei es ein altehrwürdiges Konzept wie Tianxia oder der Konfuzianismus als Herrschaftsdoktrin, sei es der heutige chinesische globalisierende Räuberkapitalismus findet Zhao – jedenfalls im Rahmen dieses Buches – anscheinend nichts zu kritisieren.
Was im Westen intellektuell und weltanschaulich besser, jedenfalls andersartig entwickelt ist als in China, wird runtergeputzt, indem er dem westlichen Denken fundamentale Mängel ankreidet, die dieses allerdings, wie bei genauerer Kenntnis sich erschließt, selbst schon früher kritisiert hat. Der chinesische Glaube ans Ewiggleiche ist für Zhao kein Gegenstand der Kritik, vielmehr empfiehlt er ihn weiter. Typische chinesische Formen der autoritativen Regulierung und Kontrolle von oberster Stelle aus (es soll in diesem Sinne eine Tianxia-Weltbürokratie geben) gelten ihm als einziger Ausweg aus dem „Chaos“. Im Sinne des heutigen nach Welthegemonie strebenden chinesischen Staates zu schreiben, weist Zhao von sich, wohl mit einiger Authentizität, denn das kann man nicht ohne sich zu blamieren; aber er empfiehlt der Welt, sich auf kulturelle Grundzüge Chinas umzunormieren, die er nicht kritisch sieht.
Es ist schließlich noch eine Analyse der merkwürdigen Passagen über „Volksseele“ und die Mängel von Demokratie erforderlich (42 ff.)
Der Ausgangspunkt ist die Vorstellung, die Welt müsse endlich Subjekt ihrer Entwicklung werden.
Die Welt als Subjekt, wie könnte die sich wahrnehmen, artikulieren, handeln?
Wir kennen Staaten als Subjekte, die von ihren Bürgern in unterschiedlichen, aber definierbaren Arten wahrgenommen werden, auch von Menschen, die nicht zu ihnen gehören (Ausländern) und von internationalen Subjekten wie anderen Staaten; die eine interne Willensbildung betreiben und diesen Willen nach innen wie nach außen ausdrücken können; die ihre Zwecke mit staatlichen Mitteln zu verwirklichen suchen, mit Gesetzen und einer Bürokratie nach innen, mit Geld, Diplomatie und Militär nach außen gegenüber anderen Staaten.
Die Welt, von einem geografischen Wesen zu dem eines politischen Subjekts übergehend, sollten wir uns jedoch weniger als Staat vorstellen, so Zhao ausdrücklich, denn die geschichtliche Rolle von „Staat“ gehe ohnehin zurück. Weniger als „Staat“, mehr als was? Wieviel weniger, wieviel mehr? Es gehe in Zukunft mehr um die Regulierung und Kontrolle globaler „Systeme“ wie des Finanzsystems, der Systeme der Hochtechnologie, (an anderer Stelle wird auch das Internet erwähnt), der sozialen Medien (196). S. 236 meint er
„Eine aufstrebende Macht neuen Typs, die systemische Macht, wird mittels globaler Systematisierung allmählich die Kontrollmacht und Dominanz der Staatenvielfalt ablösen. Dieser systemischen Macht wird vermutlich in Zukunft die reale politische Macht über die Welt gehören und die Staaten werden lediglich als ihre Agenten fungieren. Es ist nahezu auszuschließen, dass die künftige Welt zum System einer Hegemonialmacht wird, sie wird im Gegenteil das Ende der Hegemonialsysteme bedeuten. Daher – und hier betreten wir den Bereich der Spekulation – wird das neue Tianxia -System vermutlich eine auf die globalen Systeme gestützte Überwachungs- und Regulierungsmacht begründen, insbesondere zum Schutz und zur Regulierung des globalen Finanzsystems, das globalen gemeinsamen Internets und der von allen benutzten technologischen Systeme.“ [bereits weiter oben zitiert]
Das wirkt verschwommen und widersprüchlich. Zunächst versucht ein Leser vielleicht, aus diesem Geraune Andeutungen über so etwas wie die gute alte „Weltregierung“ herauszuhören. Viele haben sie sich schon einmal gewünscht, sie ist immer völlig irreal geblieben, das Einzige, was annäherungsweise möglich wäre, scheint ein zeitweiliger diktatorischer Zusammenschluss einer Gruppe Mächtiger zur Unterdrückung vieler Anderer in der sog. Weltgemeinschaft zu sein – was Zhao vehement ablehnen müsste.
Wie also grenzt er seine „aufstrebende“ „systemische Macht“ dagegen ab? Überwachung und Regulierung von globalen Systemen soll eingerichtet werden, vorrangig und schwerpunktmäßig der sozialen Medien oder des Finanzsystems, zu deren Schutz (und gleichzeitig auch mit ihnen als den Werkzeugen des Schutzes – noch mehr Geraune). Überwachung und Regulierung sollen von einer „Macht“ getätigt werden. Wie diese beispiellose, die wichtigsten Systeme der Welt regulierende Macht zusammenkommen soll, wie sie von der Welt autorisiert (und ihrerseits kontrolliert!) würde, was ihre Machtmittel (globale Informationsgewinnung und globales Militär?) wären – solche Fragen werden hier gar nicht erst gestellt..
Wer bisher so etwas wie Weltregierung gefordert hat, hat wohl so etwas wie eine Föderation der existierenden Staaten sich gedacht, die im Einverständnis miteinander eine Art Regierung über sie selbst installieren, ähnlich wie Bundesstaaten, deren Mitglieder die obersten Funktionen und Legitimierungen an eine Bundesregierung abgeben. Das könnte im Weltmaßstab ein eher demokratisches, aber auch ein eher hegemoniales Konzept sein. Aber für Zhao ist eine derartige Vorstellung von Föderation von möglichst vielen Staaten wohl noch immer zu konkret, oder er will nicht klar ausdrücken, was er eigentlich meint.
Zhao äußert die Vermutung, von den globalen Systemen (Finanz, Internet, international gemeinsam genutzte technische Systeme) gehe künftig mehr Macht aus als von Staaten. Dies scheint er als eine Voraussetzung des künftigen Tianxia zu sehen, er scheint nicht geneigt, solche Vorstellungen zu kritisieren.
Für durchschnittliche Bürger des Westens mit halbwegs demokratischer Grundeinstellung und sicher auch für viele in Asien und anderswo sind solche Ideen indiskutabel.
Während Staaten von Personen geführt und vertreten werden, deren Tätigkeit und deren Rechenschaftspflicht einigermaßen definiert sind, treten in den Zhaoschen Termini „System“ und „Welt“ weder Eigentümer noch Besitzer noch Macher noch Betreiber noch Nutznießer überhaupt noch auf, obwohl ohne solche Funktionen die Termini leer sind. Wenn man sie an Funktionen der sog. Künstlichen Intelligenz delegierte, bliebe noch immer die Frage, welche Menschen diese konzipieren und besitzen und betreiben. Zhao verzichtet hier von vornherein auf jede Erklärung, auf jegliche wenn auch nur abstrakt logische Definition. Daher ist das entweder wertloses Gerede genau an der zentralen Stelle des Buches, wo der Verfasser die politische Machbarkeit einer Weltsouveränität darlegen müsste, oder aber es ist eine Propaganda, die Konkreteres verbergen soll.
Was nämlich in diese Richtung konkret möglich oder zumindest logisch denkbar wäre, das wäre etwa eine Machtteilung bspw. zwischen China und den USA – gegen den „Rest“ der Welt. In einem derartigen Falle würden die mächtigsten Finanzsysteme, die größten Internetsysteme für Befriedigung bzw. Befriedung und Kontrolle großer Bevölkerungen und wahrscheinlich auch „technische Systeme“ (vielleicht sind hier z.B. Weltraumtechnik, militärische Systeme gemeint?) irgendwie koordiniert werden und ihren Inhabern für eine gewisse Zeit gemeinsamen Nutzen verschaffen, den Nicht-Teilhabern aber gemeinsam das Nachsehen. Google und Baidu, GoldmanSachs, Applepay und die chinesischen Staatsbanken, Amazon und Tencent und Alibaba kämen unter ein gemeinsames Dach, die chinesische und die US-amerikanische politische Führung würden vernetzt, ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung stünde künftig unter gemeinsamer Überwachung und Bestrafung der durch niemanden autorisierten NSA, des CIA und der chinesischen social credit-Organe. Dergleichen hätte Null und Garnichts zu tun mit Weltsouveränität, mit geteiltem Nutzen für alle Bewohner der Welt, mit einem Zusammenkommen unter einem wohlwollenden „Himmel“. Und die Inhaber und Nutznießer einer solchen Herrschaft würden es mitnichten schaffen, sich auf Dauer hinter sogenannten „Systemen“ zu verstecken, die man früher schon immer wieder gern als „Sachzwänge“ oder ähnlich sakralisiert hatte.
Ein weiterer wunder Punkt ist Zhaos „Volksseele“ und seine Abgrenzung einer politischen Ordnung mit der „Volksseele“ als zentralem Element gegenüber dem, was gemeinhin unter Demokratie verstanden wird.
Die „Volksseele“ erscheint bei Zhao im Gefolge spieltheoretisch formulierter abstrakter Erwägungen unter dem Titel „Relationale Rationalität“. Zhao äußert hier in einer Gegenüberstellung von „individueller Rationalität“ vs. „relationaler Rationalität“ die Meinung (ich fasse vereinfacht zusammen), dass es sich auf die Dauer nicht lohne, Gegnern Schaden zuzufügen und dadurch Gewinne einzustreichen, denn die Gegner lernten daraus und würden schließlich erfolgreich Revanche nehmen (38). Strategien, die nur auf den eigenen, individuellen Nutzen zielten, seien daher nur vermeintlich rational, rational sei nur eine Strategie, die auch auf Nutzen der Gegenseite ziele. Zhao nennt das relationale Rationalität.
Das habe bereits Konfuzius mit seinem Kernbegriff „Menschlichkeit“ gemeint (40). „die ontologische Implikation von Menschlichkeit lautet: optimale koexistentielle Beziehung zwischen zwei beliebigen Menschen.“ (40)
Auf die aktuelle Weltlage bezogen könnte dieser höchst abstrakte Satz als konkrete Aufforderung Chinas an die USA gelesen werden, mit der Konfrontation aufzuhören, denn die bringe zwar kurzfristig den USA den Gewinn, China aber werde die konfrontativen Strategien rasch nachahmen und bald besser beherrschen, sodass dann der Schaden bei den USA liegen werde; besser wäre es, die USA überlegten, wie beide Hegemonialmächte gemeinsam profitieren könnten.
Hier fragt sich der in Konfuzianismus und Spieltheorie weniger bewanderte Europäer, Afrikaner oder wer auch immer: werden wir dann den gemeinsamen Profit der beiden Großen zu erwirtschaften haben? Zhao würde möglicherweise antworten: nein, ihr könntet euch doch in das Spiel relationaler Rationalität einklinken, dann profitiert ihr mit. Es entsteht ein Bild internationaler, globaler Prosperität, das alle Teilnehmer bereichert….
Hier ist es an der Zeit, einen grundsätzlichen Schwachpunkt in Zhaos gesamten Erörterungen zu benennen: er räsonniert über Politik stets unter Auslassung der elementaren Tatsachen der Klassen, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
War etwa die Zeit der Westlichen Zhou-Dynastie eine der Harmonie zwischen unten und oben in der Gesellschaft? Gab es keine Sklaverei und keine Hörigkeit der unteren Clanmitglieder gegenüber der Clan- und Stammesaristokratie? Wer erarbeitete deren Luxus, der archäologisch gut bezeugt ist, wer stellte die Fußsoldaten in ihren Kriegen? Meines Wissens sind das alles Fragen, über die bereits Konfuzius immer mit vornehmen Vorträgen über „Menschlichkeit“ als moralisches Gebot hinweggegangen ist – Zhao in allen seinen Ausführungen über die damalige und die weitere chinesische Geschichte gleichfalls. Offensichtlich ist jedoch die chinesische Geschichte, mit ihren zahllosen internen Kriegen, ihren immer wiederkehrenden Bauernaufständen und deren drakonischen Niederschlagungen nicht weniger blutig und brutal, nicht weniger Geschichte von Klassenkämpfen als die europäische, und es fragt sich, ob die konfuzianische Menschlichkeits-Predigt je auch nur zur Milderung der Ausbeutung beigetragen hat, ob sie nicht vielmehr, wie ihre Kritiker auch innerhalb Chinas konstatieren, als Maulkorb der Opfer und Selbststilisierung der Täter fungiert.
Falls Zhao hier – verdeckt unter höchst abstrakten Erörterungen – die Ausübung konfuzianischer relationaler Rationalität zwischen den USA und China anregen sollte, was ich hier versuchsweise unterstelle, d.h. deren Verabredung auf die Teilung des Nutzens ihrer hegemonialen Stellung statt des Kampfes um die Vorrangstellung in der internationalen Ausbeutung, stellt sich analog die Frage, wer das bezahlt. Genau so wenig wie die Zeit der Westlichen Zhou-Dynastie von sozialer Harmonie zwischen oben und unten vorrangig geprägt gewesen sein dürfte, und in keiner späteren Dynastie war das wesentlich anders, genau so wenig dürfte soziale Harmonie in die heutige Welt einkehren, wenn sich China und die USA auf zeitweilige gemeinsame Hegemonie und geteilten hegemonialen Profit einigen würden. Es spricht zwar alles dafür zu versuchen, die kriegerische Konfrontation zwischen den USA und China zu vermeiden mit den enormen Zerstörungen, die auch wiederum vor allem vom sozialen Unten in den Ländern und in der Welt zu erleiden wären, doch auch wenn das gelingen sollte, blieben die Fragen der heutigen extremen globalen kapitalistischen Ausbeutung von Mensch und Natur, blieben auch die Rivalitäten der Ausbeuter um den größten Teil der Beute gleich drückend.
Was hat es nun mit dem Zhaoschen Schlüsselbegriff „Volksseele“ auf sich?
Zhao kommt auf sie zu sprechen nach einem weiteren Zwischenschritt. Er formuliert – weiterhin abstrakt spieltheoretisch – einen Zustand, in dem „relationale Rationalität“, d.h. der Ausschluss von Revanche zwischen zwei Spielern und die Verabredung auf gemeinsamen Nutzen allgemeine Grundspielregel wäre. Gegen diesen Zustand gebe es dann kein rationales Gegenargument mehr, allerdings setzt er in Klammern hinzu: „emotionale und irrationale Argumente bleiben außer Betracht“ (42). Oder, wie er es weiter unten ausdrückt:
„Nach wie vor muss sich Politik allerdings dem Problem der Sehnsüchte, der Spiritualität und der Emotion stellen.“ (43) „Das hat zur Folge, dass der Gerechtigkeitsbegriff, sobald er auf den Boden der Wirklichkeit trifft, gezwungen ist, sich durch die subjektiven Präferenzen der Menschen zu beweisen.“ (43)
Diese werden also nun doch in Betracht gezogen.
Wie könnte es sich zeigen, fragt Zhao, dass die Subjekte mit der objektiv bereits hergestellten Gerechtigkeit zufrieden sind – dass ihre Emotionen, ihre Spiritualität, ihre Sehnsüchte damit übereinstimmen? Entweder stimmten alle positiv darüber ab, was eine unsinnige Norm wäre, oder die Mehrheit entschiede. Letzteres entspräche der Vorstellung der modernen Demokratie (44).
Demokratie als „Form des Interessenwettbewerbs“ mache allerdings Gerechtigkeit fragwürdig. Demokratie sei nur tauglich, wenn das gemeinsame Interesse feststehe und nur über die unterschiedlichen Wege es zu realisieren abgestimmt werde. Demokratie sei „keine richterliche Instanz für Werte“ (44).
„Demokratie kann nicht garantieren, dass die getroffene Entscheidung die beste im Sinne des öffentlichen oder auch des individuellen Nutzens darstellt.“ (44)
Natürlich kann sie das nicht garantieren, die Praxis wird solche Fragen letztlich entscheiden…., aber solch eine generelle Abqualifizierung von Demokratie, nicht nur der beschränkten parlamentarischen Demokratie der westlichen Länder, ist auch nicht gerade unproblematisch.
Statt den Problemen der Demokratie mehr Analyse zu widmen, eröffnet Zhao hier bemerkenswerterweise eine Suche nach einer Instanz, die das könne, was die Demokratie seiner Meinung nach nicht kann, nämlich ‚die besten Entscheidungen garantieren‘.
„Kann Demokratie die Erwartungen der Volksseele verwirklichen? Daher: Evidenz 3: Ein System ist nur dann legitim, wenn es der Volksseele entspricht.“ (44)
Der Begriff der „Volksseele“ ist jedoch, sagt Zhao selbst, „einigermaßen unscharf“ (45).
„Man könnte es vielleicht so formulieren, dass die ‚Volksseele‘ die Gesamtheit der Anschauungen repräsentiert, die sich im Verlauf lang währender rationaler Praxis als vorteilhaft erwiesen haben und von allen geteilt werden.“
Wer stellt denn nun aber fest, welche Anschauungen dieser Art es überhaupt auf der Welt gibt, wer definiert ihre Qualität („im Verlauf lang währender rationaler Praxis als vorteilhaft erwiesen“) bzw. disqualifiziert einige in dieser Hinsicht? Zhao führt uns hier in uferlose Komplikationen hinein. Ér ist mit sich selbst auch nicht im Klaren: oben hatte er gesagt, die Zustimmung „aller“ zu bestimmten Konzepten der Gerechtigkeit sei eine utopische Forderung, hier soll es aber nun eine „Gesamtheit von Anschauungen“ geben, die „von allen“ geteilt werden.
„..möglicherweise kommt der Begriff der „Volksseele“ dem modernen Begriff der universellen Werte einigermaßen nahe.“ (45)
Aus der folgenden Erörterung, was universelle Werte logischerweise (nicht inhaltlich) seien, zieht Zhao dann die Folgerung: „Nur wenn ein Wert zugleich notwendig und universell ist, ist er ein universell guter Wert und ebenso ein universell notwendiger Wert.“
Die Hinzunahme von „notwendig“ macht die Frage nach universellen Werten mE jedenfalls nicht einfacher. Damit gehen jedenfalls neue Konflikte einher über die Auffassung von Notwendigkeit.
[Ich habe einige Zeit gebraucht, um hier dem verwinkelten Gedankengang Zhaos nachzuspüren. Wenn meine Zusammenfassung unverständlich scheint, bitte ich um Entschuldigung; der größere Teil der Verantwortung liegt mE bei Zhao, seiner Umständlichkeit und seiner Neigung, konkrete politische Spekulationen – auf die ich weiter unten zu sprechen komme – in abstrakten, scheinbar komplett logischen Wortfolgen zu verstecken.
Zhao hat die Erörterung der universellen Werte hier eröffnet, um erneut dafür zu plädieren, dass man die Beziehung zwischen Menschen, nicht das Individuum, als Basiseinheit der sozialen Analyse nimmt. Wenn man das tue, müsse man „sich mit allen Formen akzeptierbarer Beziehungen zwischen Menschen beschäftigen.“ Dann bedeute „universell notwendiger Wert“ allgemeine Nutznießerschaft und universelle Kompatibilität (47), diese seien Werte, denen „jedermann zustimmen“ werde.
Der Begriff „allgemeine Nutznießerschaft“ setzt voraus, dass ein allgemeiner Nutzen definiert werden kann, und zwar so, dass alle ihn erkennen und anerkennen und auch als den eigenen Nutzen verstehen. Es dürfte wenige Dinge geben, die diese Forderung erfüllen. Vielleicht gehören elementare Lebensbedingungen wie Nahrung, Kleidung, Wohnung und Schutz der körperlichen Unversehrtheit dazu. Wenn Politik Gesetze erlässt, Einrichtungen schafft, die diese Bedingungen für alle garantieren, wird „jedermann“ das für richtig halten – darin kann man Zhao folgen. Wenn diese Bedingungen von der Politik nicht für alle garantiert werden können, sondern nur für einige, oder überhaupt Garantie verneint werden muss, wie bspw. im Krieg, wird die Definition von „Nutzen“ schwierig. Auch Kompatibilität kann es nicht immer geben, wenn man Kompatibilität versteht als die Möglichkeit für jeden, und seien die einzelnen Individuen einander noch so avers, neben den anderen nach seiner eigenen Kultur zu leben und seine eigenen bspw. religiösen Maßstäbe zu verwenden.
Ich erkenne hier durchaus auch Interessantes, Anregendes und Positives. Zhao plädiert hier – freilich in etwas eigenartigen, wahrscheinlich chinesisch-kulturell bedingten Begriffen – für bestimmte allgemeine Normen, die durchaus ihren Platz in der Gesellschaft haben und vielleicht in höherem Maße haben sollten: mehr Denken und Leben in Kollektiven, die so organisiert sind, dass sie dem eigenen Nutzen des Mitglieds, jedenfalls nicht seinem Schaden, jedenfalls aber dem Nutzen des Kollektivs dienlich sind, und auch so erkannt und anerkannt werden – statt der Orientierung auf den maximalen individuellen Nutzen ohne Rücksicht auf den Schaden anderer oder der Gesellschaft. Und Offenheit für differente Lebensformen, Religionen etc. – er nennt das Kompatibilität.
Doch in der prinzipiellen Polemik dagegen, das Individuum überhaupt als Basiseinheit der Entwicklung gesellschaftlicher Wertvorstellungen zu nehmen – großzügigerweise soll ihm noch das Recht zuerkannt werden, in seinen Beziehungen zum jeweiligen Kollektiv mit zur Geltung und zumindest nicht zu Schaden zu kommen – sehe ich eine radikale, ungeheuerliche Kampfansage.
Die Wertvorstellungen müssten der „Volksseele“ entsprechen? Was soll das heißen? Gibt es eine rationale, aufklärerisch bissfeste Definition von „Volksseele“?
Die „Volksseele“
„trägt in sich das gemeinsame Verständnis des Lebens, geformt aus geteilten Erfahrungen, Traditionen und Geschichte. So etwas wie die durch langjähriges Spiel erprobte ‚öffentliche Meinung‘ oder die durch besondere Umstände unbeeinflussbare allgemeine Einsicht“ (45)
Hier wird die „Volksseele“ zunächst so ähnlich definiert wie die Kultur bestimmter Einheiten, bspw. von Nationen, definiert werden könnte – „gemeinsames Verständnis des Lebens, geformt aus geteilten Erfahrungen, Traditionen und Geschichte.“ Dann erscheint eine „durch langjähriges Spiel erprobte ‚öffentliche Meinung‘“ – etwas völlig Anderes als bspw. eine nationale Kultur. Zum Begriff „öffentliche Meinung“ gehört zunächst einmal ihre schwierige Erfassbarkeit, denn die öffentliche Meinung ist ständig in Bewegung; sie wird von interessierter Seite, bspw. durch kapitalistische Interessen und politische parteiliche Strebungen ständig bearbeitet und ist sowohl dadurch wie auch durch die Erfahrungen, die die Massen machen, ständig in Fluss. „Öffentliche Meinung“ zusammenzubringen mit „langjährigem Spiel und Erprobung“ scheint mir fast unmöglich; was meint Zhao hier? Schließlich noch „die durch besondere Umstände unbeeinflussbare allgemeine Einsicht“. Ob allgemeine Einsichten bspw. in einer Nation, oder gar im Weltmaßstab überhaupt existieren, finde ich fraglich. Vielleicht muss man, um einen solchen Begriff zu retten, auf Allerelementarstes zurückgreifen wie die Anerkennung der Grundbedürfnisse aller Menschen qua lebender Organismen. Dass sie befriedigt werden müssen, ist wahrscheinlich „allgemeine Einsicht“ rund um die Welt; andererseits ist aber eine solche Stufe der „Einsicht“ so gering, dass sich das Wort eigentlich verbietet. Je allgemeiner, desto weniger Einsicht.
Ich habe den Verdacht, dass die Historie Chinas, geprägt an der Basis vom jahrtausendelangen schweren Kampf von Massen meist armer und rechtloser Bauern um die Sicherung der Grundbedürfnisse der Familie, von der Unterordnung unter den Clan, die Grundherrschaft und die zentrale kaiserliche Bürokratie sich in einer bestimmten Mentalität, einer Kultur niedergeschlagen hat, die man eben nicht zur Grundlage von politischen Zukunftsentwürfen für die heutige „Welt“ machen sollte.
Ich fürchte, dass in dem Herum-Eiern um das Wort „Volksseele“ – leider verdient die Qualität von Zhaos Erörterung an der zentralen Stelle seines Buches keine bessere Bewertung – die Tendenz lauert, eine Mentalität, die sich auf das – im Sinne des Überlebens – Elementarste konzentriert, zum ethischen Maßstab der künftigen Welt hochzureden bzw. zu hochzuraunen. Es gehört zu den ernstesten, wichtigsten und schwierigsten Aufgaben von geschichtlichen Wissenschaften und Politik, die unterschiedlichen Kulturen in der Welt vorurteilslos zu beschreiben, ihre Entstehungs- und Entwicklungsgründe zu verstehen und auf diese Weise dabei mitzuhelfen, dass sie sich, dies durchaus im Sinne von Zhao, in die Entwicklung einer von allen geteilten Welt einbringen. Die kulturelle Vielfalt und die kulturelle Höhe der Welt darf aber nicht auf ein gemeinsames Einverständnis über Elementaria des täglichen Überlebens, genannt „Volksseele“, herunternormiert werden, während alle anderen Maßstäbe, die in der Tat in den einzelnen Kulturen sehr unterschiedlich entwickelt wurden, dem Verdikt verfallen, sie seien global nicht konsensfähig.
Dass im Westen die Tradition sich entwickelt hat, das Individuum als „Basiseinheit“ des ethischen und politischen Denkens anzunehmen, mag ja durchaus mit eine Rolle dabei gespielt haben, dass sich Einseitigkeiten dieses Denkens entwickelt haben, auch mag es Exzesse der individualistischen Bereicherungs- und Genusssucht, asoziale, auch kolonialistische und imperialistische Gewalttätigkeit begünstigt haben.
Zhao hat Recht, wenn er die enormen Gefahren für die menschliche Gesellschaft mahnend aufzeigt, die aus dem enthemmten egoistischen Profitstreben des heutigen globalen Kapitalismus erwachsen.
Doch die Emanzipation des selbstverantwortlichen, aufklärenden Individuums, das bereit und fähig ist, das Richtige in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik u.U. auch gegen jedes – kollektiv und aus kulturellen Traditionen heraus – für unumstößlich Gehaltene, Alte und Falsche oder einfach bequeme Gewohnte zu vertreten und durchzukämpfen, ist gleichzeitig ein unverzichtbares Positivum für die „Welt“. Dieses Prinzip darf für keinerlei Vorteile von Kollektivismus (und er hat viele, die man nutzen sollte) aufgegeben oder vermindert werden.
Eine starke kapitalistische Tendenz im Westen, ganz ähnlich wie im China des social credit, ist die Reduzierung des Menschen mit allen seinen schöpferischen Fähigkeiten auf einen Typ der Ein- und Unterordnung, unter „Algorithmen“, unter obrigkeitliche und/oder kapitalistische Belohnungs- und Bestrafungsroutinen. Wenn westlicher Individualismus kritisiert wird, muss man aufpassen, ob da nicht derartige Antriebe mit im Spiel sind. Es muss unbedingt Kritik am westlichen Individualismus geübt werden, z. B. Kritik an der Entwicklung der Bourgeoisie mit ihren Schemata der Ausbeutung, des Kolonialismus, des Rassismus und des Imperialismus; aber eine Kritik, die das Revolutionäre an die Kette legen will, das im westlichen Denken über die Gesellschaft ebenfalls tief angelegt ist, eine Kritik, die im Namen von großer Ordnung, allgemeiner Harmonie, Kontrolle und Sicherheit dem Individuum, der Kultur und der Entwicklung ins Unbekannte hinein an die Gurgel will, ist etwas Anderes.
Ich möchte einem Schriftsteller wie Zhao eigentlich nicht unterstellen, dass seine Ideen zu stark in diese Richtung weisen, und vielleicht missverstehe ich ihn. Allerdings aber findet sich in diesem Buch nichts, was zur Klarheit hinsichtlich solcher zentraler Unterscheidungen beitrüge. „Relationale Rationalität ist das grundlegende Operationsprinzip der Politik des Tianxia , es kann zur Festlegung der Weltordnung und der Spielregeln verwandt werden und bringt die universell notwendigen Werte der universellen „Volksseele“ zum Ausdruck“ (48). Mehr zur Beseitigung von polit-philosophischer Klarheit als solche Sätze kann man kaum formulieren.