Ukraine, Israel-Iran: diese beiden Vorgänge haben etwas gemeinsam, das in der öffentlichen Auseinandersetzung zu wenig beachtet wird. Es geht in diesen Kriegen nicht nur um die Souveränitäten – bspw. darum, welche Teile der Ukraine unter der Kontrolle welcher Staaten stehen, oder ob der Iran entscheiden kann, welches Atomprogramm er betreibt – , sondern es geht in meinen Augen den beteiligten Kriegsparteien ganz zentral um die Kontrolle der eigenen Bevölkerungen.
Und noch mehr: sie unterstützen einander dabei, gerade indem sie gegeneinander Krieg führen.
Im Falle Israel-Iran: so sehr im Iran große Teile der Bevölkerung die Befreiung von dem aktuellen Regime wünschen und darum kämpfen mögen, die Angriffe Israels geben dem Regime im Grunde eine Auffrischung der längst verwirkten Legitimation. Es dürfte nur sehr wenige Bürger geben, die nicht die militärische Verteidigung gegen solche Anmaßungen einer fremden Macht wünschen, wie sie Israel in dankenswerter Offenheit verkündet. Israel maßt sich ja nicht nur die Kontrolle über die iranische Atompolitik an, sondern gibt deutlich zu verstehen, dass es die Lufthoheit über das ganze Land beansprucht bzw. bereits habe. Jegliche grundlegende innere politische Entwicklung im Iran steht nunmehr unter der Drohung, mit israelischen und/oder auch US-Bomben belegt zu werden, so wie das schon seit längerem gegenüber dem Libanon und Syrien praktiziert wird.
Navid Kermani, ein Schriftsteller mit deutschem Pass, iranischen Wurzeln und Verbindungen in das Land und nach Israel, vermerkt, dass der demokratischen Bewegung im Iran bereits vor Jahren schwerer Schaden zugefügt wurde durch die Erklärung der israelischen Regierung, sie unterstütze diese. („Süddeutsche Zeitung“, Gastbeitrag v. 22.6.25). Das iranische Regime sei dadurch gestärkt worden in der Verleumdung, die demokratische Bewegung sei ein Werkzeug der israelischen Subversion, Demokraten gehörten als israelische Agenten an den Galgen. Wahrscheinlich verdient in diesem Zusammenhang auch die Meldung der israelischen Regierung Beachtung, sie habe das Evin-Gefängnis in Teheran bombardiert; dort hält das Regime innenpolitische Gegner gefangen.
Kermani berichtet auch von der Gegenseite, dass einer seiner israelischen Gesprächspartner, der an Demonstrationen gegen den Gazakrieg seiner Regierung teilnimmt, Klage über die iranischen Raketen führe, die den Platz der Demonstrationen getroffen hätten. Mag dies auch eher ein kleindimensioniertes Beispiel sein: das iranische Regime wirkt durchaus mit, wenn es darum geht, Bürger Israels, die mit der extremen Gewalttätigkeit ihrer Regierung nicht einverstanden sind, wieder unter deren „Schutz“ zu treiben.
Meine These: beide Regime arbeiten daran, dass auf der Gegenseite keine wirkliche Opposition, kein wirklicher demokratischer Umschwung zustande kommen kann; trotz aller wutschäumenden gegenseitigen Vernichtungsversprechen stabilisieren sie einander, oder genauer gesagt: mittels derartiger Propaganda tun sie das. Es ist nicht wahrscheinlich, dass der Iran auf seine Atomprogramme, welcher Art sie auch seien, verzichten wird, und man kann davon ausgehen, dass er darin auch von anderen, bspw. Russland und China, zumindest insgeheim unterstützt wird. Aber sowohl die Mullahs wie auch Netanjahu dürften die innere Kritik zumindest vorerst wieder in die Ecke gedrängt haben.
Erinnert man sich noch an den langdauernden Krieg zwischen dem Iran und dem Irak 1980-88, kurz nach der Machtübernahme des Mullah-Regimes im Iran? Der Krieg diente sowohl den Mullahs, die gerade eben an eine noch wacklige Macht gekommenen waren, als auch dem irakischen Machthaber Saddam Hussein bei der Festigung ihrer brutalen Machtstrukturen – und die USA im Bunde mit Israel unterstützten beide Regimes dabei. Die sog. Iran-Contra-Affäre zeigte u.a., dass auch Israel an US-Waffenlieferungen an das Mullahregime beteiligt war, während USA und Israel es angeblich ablehnten.
Der Krieg war letztlich vor allem dadurch gekennzeichnet, dass in der Grenzfrage, seinem angeblichen Grund, im Ergebnis alles beim Alten blieb, aber die Jugend beider Länder in grauenhaftem Ausmaß gezwungen wurde, einander umzubringen und dass die jeweiligen oppositionellen Kräfte als angebliche Feindagenten an die Wand gedrückt wurden. Erst nach diesem Krieg saßen die Mullahs fester im Sattel.
Der Ukrainekrieg lässt sich mit den Konflikten im vorderorientalischen Raum, in deren Zentrum Israel steht, schlecht direkt vergleichen, aber auch im Falle der Auseinandersetzungen um die Ukraine haben offensichtlich sowohl die Regimes in Russland wie in der Ukraine, deren polit-ökonomische Grundstrukturen beide – vereinfachend – vielleicht als ‚vergangsterte Oligarchien‘ charakterisiert werden können, die von großen Teilen der Bevölkerung als schwere Last empfunden werden, sich gegen die eigenen Bevölkerungen und deren demokratische Ansprüche einstweilen festigen können – durch den Krieg.
Was bedeutet „Multipolarität“?
Man mag die Parallelen, die ich anhand dieser Beispiele ziehe, vielleicht als willkürlich und realitätsfern abtun wollen. Aber ich lasse hier nicht locker und gehe einfach höher, auf die globale Ebene, wo sich in meinen Augen unter Schlagworten wie „Multipolarität“ Veränderungen abspielen, die man in meinen Augen am besten in ähnlicher Weise kategorisieren kann.
In den offiziellen Darstellungen der globalen Konflikte geht es um Territorien, bspw. um die Aufteilung der Ukraine oder um Taiwan; es geht tiefergehend darum, ob zwischen rivalisierenden Großmächten wie USA und China gravierende Systemgegensätze bestünden wie etwa zwischen Demokratie und Autokratie, oder zwischen Aggressor und Verteidiger, dergestalt dass man um eine Parteinahme nicht herumkomme. Vereinfacht gesagt, gehe es darum, dass der eigene Staat oder seine Staatengruppe der Zukunft der Menschheit bessere Chancen böten als die jeweiligen Rivalen oder Gegner.
Mit dem mittlerweile gängigen Ausdruck „Multipolarität“ wird suggeriert, dass die USA mittlerweile auf den Anspruch des alleinigen Weltführers hätten verzichten müssen angesichts der wachsenden Stärke Chinas, und dass vielleicht ein friedlicheres Weltregime möglich werde, in dem die verschiedenen Mächte besser ausbalanciert würden. Tatsächlich sehen wir aber keinen Verzicht der USA und ihrer Anhänger auf die globale Führung, sondern ausgeweitete Bombardements, und keine Tendenz bei der chinesischen Führung, sich mit dem zweiten Platz zu begnügen.
Jan Opielka hat in der „Berliner Zeitung“ vom 24.6.25 eine ausführliche Analyse dazu geschrieben, der ich weitgehend folgen kann.
Beide behaupten, es gehe darum, dass der eigene Staat bzw. die eigene Staatengruppe („der Westen“ – „BRICS“) der Zukunft der Menschheit bessere Chancen böten als die jeweiligen Rivalen. Die USA waren bekanntlich noch nie besonders zurückhaltend bei der Verkündung ihrer kapitalistischen Ausbeuterordnung als des angeblichen Messias der Menschheit; die chinesische Regierung, die mittlerweile gleichfalls einer Variante des Turbokapitalismus und dessen internationaler Expansion vorsteht, beruft sich auf die historische Aufgabe, China als einer der seit altersher führenden internationalen Kulturnationen, wenn nicht sogar des eigentlichen Zentrums der Welt, nach der historischen Erniedrigung durch den westlichen Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert wieder den gebührenden internationalen Spitzenplatz zurückzuerobern.
Was aber wird aus diesen dem Anschein nach einander wechselseitig ausschließenden Ansprüchen, wenn mittlerweile die inneren Verhältnisse sich stark aneinander angleichen?
Wenn die Kontrolle der Bürger durch die Regierungen im Zeitalter der digitalen Vollerfassung jeglicher Lebensregung in West wie Ost ganz ähnlich voranschreitet, wenn zwischen einem chinesischen social credit system und den Entmündigungen, die im Westen vorangetrieben werden, bspw. auch durch die Bargeldabschaffung, keine so großen qualitativen Unterschiede mehr zu erkennen sind? Wenn überall systematisch daran gearbeitet wird, den mündigen Bürger einer Demokratie in einen 24/7 gesteuerten Arbeitssklaven und freudigen Konsumenten umzuwandeln?
Und noch mehr: wenn die angeblich so wesensverschiedenen Regierungssysteme in den USA, der EU, Russland und China in internationalen Gremien wie der World Health Organisation (WHO) sich verabreden und gegenseitig unterstützen bei der Entwicklung weltweiter ‚Pandemie-‘ und Impfregime? Wenn ihre Diplomaten kooperativ einander treffen, ohne dass sie dabei wesentlich gestört würden durch die Kriege, die sie gleichzeitig gegeneinander führen wie in der Ukraine, oder durch die Planungen und die gigantischen Rüstungen, die sie gleichzeitig zur Vorbereitung weitere Rivalitätskriege vorantreiben? Wenn ein Biowaffenlabor wie in Wuhan von den USA und China gemeinsam betrieben wird? Wenn noch heute ein erheblicher Teil der US-Staatsschulden von China gehalten wird und große US-China-Kapitalverflechtungen weiterhin über die Kontinente hinweg vorangetrieben werden? Wenn die US-Regierung ihre eigene Bevölkerung in die Gewehrmündungen von Marines schauen lässt unter dem Vorwand der Bekämpfung illegaler Migration?
Vielleicht kommt man der Realität näher, wenn man die Gegensätze zwischen den Regierungen, vor allem solche sogenannten Systemgegensätze und solche territorialen Konflikte wie die zwischen den USA und ihren westlichen Satrapen (EU) einerseits, China andererseits nicht als die wichtigsten Widersprüche einstuft, die die weltpolitischen Entwicklungen vorantreiben,
Mit anderen Worten: möglicherweise kommt man weiter, wenn man die Gegensätze, die die Systeme in Ost wie West von großen Teilen ihrer jeweiligen Bevölkerungen trennen und entfremden, als nicht weniger dynamisch einstuft als die territorialen Kriege.
Sehr vereinfachend möchte ich sagen: heute wird die Welt mit ihren über 8 Milliarden Menschen durch ein relativ gleichförmiges ökonomisches System beherrscht, in dem die kapitalistische Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft und die rücksichtslose Vernutzung der Natur allgemeines Grundgesetz sind. Die verschiedenen – und durchaus heftigst miteinander rivalisierenden – Mächte haben das gemeinsame Problem sich an der Macht zu erhalten gegenüber allen sozialen und demokratischen Ansprüchen der größten Teile der Weltbevölkerung, gegenüber den zerstörerischen Resultaten ihrer eigenen Misswirtschaft. Es wird auf die Dauer nicht möglich sein, die Schuld für die Katastrophen immer wieder den jeweiligen Gegnern zuzuschieben, um in den eigenen Bereichen due Ausbeutung und die Entmündigung beibehalten zu können.
Ein Schema in der Art: die rivalisierenden Systeme in Ost und West, Nord und Süd sind eher als die Statthalter ein- und desselben weltweiten, untragbaren ökonomisch-politischen Systems zu betrachten denn als autonome wesensverschiedene Einheiten, die miteinander um eine bessere Zukunft der Welt rängen – ein solches begriffliches Muster halte ich für brauchbar angesichts der aktuellen Entwicklungen. Bei allen kriegerischen Konfrontationen ist ihre gemeinsame Sorge, dass es weder im eigenen noch im gegnerischen Bereich zu fundamental emanzipativen Entwicklungen kommt.
Ein solches Schema wäre vor ein paar Jahrzehnten noch nicht recht angemessen gewesen. Viele Menschen halten allerdings an politischen Kategorien vergangener Zeit fest und können die heutigen Entwicklungen weniger denn je erfassen.
Mein eigener begrenzter Horizont lässt mich vorerst nur Andeutungen von realen gesellschaftlichen Entwicklungen wahrnehmen, die dem geschilderte globalen Regime gegenüber wesensmäßig humaner und tragfähiger wären. Wahrscheinlich braucht es mehr Zeit und Erfahrungen mit dessen neuen brutalen und subtilen Mechanismen der Kontrolle, der Verführung, der Massenvernichtungen und der Spaltungen. Es ist ein tödliches System, in dem das Leben von Menschenmassen nicht zählt, gezielt vernichtet wird und den größten Teilen der Menschheit Autonomie und Kreativität von Grund auf abgesprochen werden – es bringt sich selber um und wird vom Leben negiert werden.
(Fehlerkorrekturen: 25.6.25, 21.20h)
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