Ein US-amerikanischer Roman: Rachel Kushners „Ich bin ein Schicksal“

[kleine Verbesserungen eingefügt am 23.8.19 abends]

In den vergangenen Sommermonaten habe ich unter anderen Büchern einen Roman der US-amerikanischen Autorin Rachel Kushner gelesen, „Ich bin ein Schicksal“, Titel der amerikanischen Ausgabe „The Mars Room“.

Das Werk konfrontiert den Leser mit Schicksalen und Ideen, die ihm tieferes Nachdenken über unsere Gesellschaft und ihre US-amerikanische Variante mit einiger Dringlichkeit abverlangen.

Gruppiert um die fiktive Figur Romy Leslie Hall, die lebenslang sitzt, weil sie einen stalker erschlagen hat, werden die Lebensentwicklungen mehrerer verurteilter Personen, die in Haftanstalten des US-Bundesstaates Kalifornien gelandet sind, ausführlich beschrieben. Auch zwei Nicht-Inhaftierte, der Stalker Kurt Kennedy und der Sozialarbeiter Gordon Hauser, werden ausführlich porträtiert. Daneben in knapperer Fassung viele andere Personen wie Romys Mutter; ein zeitweiliger Partner; ihre bewunderte Jugendfreundin Eva und deren erbärmliches Ende in der Drogensucht….

Im Folgenden möchte ich ein paar Beobachtungen und Fragestellungen zu dem von Kushner geschilderten Gesellschafts-Ausschnitt formulieren. Sie sind wahrscheinlich nicht gut erfassbar für jemanden, der das Buch nicht selbst liest; aber eine Inhaltsangabe würde dem Buch ohnehin nicht gerecht.

 

Die Inhaftierten und auch das Totschlagsopfer von Romy, ihr Stalker, sind einander zunächst einmal ähnlich in dem Punkt, dass sie an sich selbst keine sittlichen Maßstäbe anlegen. Außer der Aktivität, die sich jeweils gerade anbietet zum persönlichen Vorteil oder Genuss oder als spontane reaktive Handlung aus einer spannungsreichen Situation heraus (wie der Totschlag an dem Stalker), wird  kein Verhalten geschildert, das darüber hinaus ginge; die Personen reflektieren sich und die Gesellschaft nicht, sie fühlen keine gesellschaftlichen Verpflichtungen, setzen sich keine Ziele außer dem unmittelbaren Vorteil und dem Überleben.

In ihrem Interview in der „FAZ“ zu dem Buch äußert sich Kushner in dem Sinne, sie habe das Leben derjenigen veranschaulichen wollen, die keine Chance zum Aufstieg hätten; es seien Menschen ohne eine Perspektive, je in die „Mittelschicht“ aufsteigen zu können. Wenn man hingegen zwar arm, aber gebildet sei (wie sie selbst oder ihre Figur Gordon Hauser), stehe einem diese Möglichkeit offen.

Im Interview sagt Kushner auch, das Buch sei eine Abrechnung mit den riesigen Unterschieden in der Gesellschaft. Der ursprünglich gewählte Titel „Ich bin ein Schicksal“ (der dann nur für die deutsche  Ausgabe geblieben ist), sei ein Zitat von Nietzsche.

„Das Schicksal einer Person ist vorherbestimmt, man kann nicht viel dagegen tun. Mir war schon sehr früh klar, dass das Leben der Menschen um mich herum anders verlaufen würde als meins, aber warum das so ist, werde ich vielleicht nie verstehen,“ so Kushner im Interview.

 

Romy allerdings, die meist ähnlich wie ihre Mitgefangenen agiert hat und agiert, weicht doch davon auch ab wegen ihrer Bindung an ihren Sohn. Sie kämpft um die Möglichkeit, Kontakt herzustellen; möglichst seine Situation zu verbessern, und schließlich zeigt sie ungewöhnliche Intelligenz, Planung und Energie, um auszubrechen und zu ihm zu gelangen, weil sie sich für ihn verantwortlich fühlt.

Die Präsentation, die  Kushner von dieser ihrer Zentralfigur gibt,  geht abschließend allerdings noch weit darüber hinaus. In einer Art abschließender “Apotheose“  formuliert Romy ihre Mutter-Rolle umfassend, aber gesellschaftlich-kosmologisch übersteigert:

„I gave him life. It is quite a lot to give. It is the opposite of nothing. And the opposite of nothing is not something. It is everything.” (336)

In diesen Sätzen kann man verschiedene Aussagen vermuten. Ich verstehe den letzten als Übergang von einem Einzelnen (Geburt, Mutterschaft, Fürsorge für das Kind) zum Allgemeinsten, das hier wohl als etwas wie Lebensstrom aufgefasst ist.

Vielleicht ist die Vorstellung Kushners auch die: in diesem Strom passiert eben allerhand, u.a. das viele Unschöne, das nun einmal passiert und passiert ist, aber das ist eben der Weg („rail“) der Individuen, den kann und soll man nicht bedauern. S. 334, eingangs der Schlussapotheose, heißt es:

“All the talk of regret. They make you form your life around one thing, the thing you did, and you have to grow yourself from what cannot be undone: they want you to make something from nothing. They make you hate them and yourself. They make it seem that they are the world, and you’ve betrayed it, them, but the world is so much bigger.

The lie of regret and of life gone off the rails. What rails. The life is the rail. It is its own rails and it goes where it goes. It cuts its own path. My path took me here.” (334)

Man muss dies nicht als die Philosophie der Autorin verstehen, sondern man kann es –  methodisch streng – nur als die Philosophie der Hauptfigur nehmen, die ihr von der Autorin in den Mund bzw. den Kopf gelegt wird. Wenn die Autorin jedoch diese Philosophie zum Ausdruck kommen lässt im Moment wo ihre Hauptfigur ihr bislang  erbärmliches Leben durch die Tat transzendiert und in dieser Tatenfolge seine Rechtfertigung begreift bzw. wenigstens beansprucht; im Moment, wo alle traurigen biografischen Komplexe des Buches ganz nach unten absacken in einer begeisterten Schau eines – vermeintlichen ­ – Ganzen, dann scheint diese Philosophie doch kaum oder gar nicht seitens der Autorin relativiert, sondern sie wird erheblich affirmiert.

Es gibt ein paar Situationen, Momente, von spontaner Mitmenschlichkeit in diesem Ozean von Asozialität und niedrigem Egoismus: vor allem eingangs, wo bei der Ankunft in der Strafanstalt eine junge mitgefangene Gebärende spontane Hilfe durch Romy und einige Mithäftlinge erfährt, die sich dadurch dem Personal widersetzen und sich Strafverschärfungen einfangen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen; (…..vielleicht auch der Moment, wo „Doc“, unter den Strafgefangenen die einzige männliche ausführlicher porträtierte Person, einen Kindesmissbraucher in flagranti erschießt.)

Die Hilfe für die Gebärende: diese Situation  hat, sicherlich von Kushner bewusst komponiert, thematischen Bezug zur Schlussapotheose Romys: Leben zu geben hat absolute Würde. In gewisser Weise logisch im Rahmen einer Philosophie, die das Leben als solches von sonstigen gesellschaftlichen Regeln absolutiert und jegliche Lebensäußerung, wie asozial sie auch sei, als eben eine solche als gerechtfertigt oder jedenfalls als zu akzeptierende sieht.

Die Gesellschaftlichkeit der übrigen Figuren entwickelt, konkretisiert sich durch ihre egoistischen Handlungen und Reflexionen, die gelegentlich durch – unerklärte – idividuelle Freundschaftlichkeiten aufgelockert, aber doch eben dadurch bestätigt werden. Eine übergeordnete Gesellschaftlichkeit erscheint in diesem Buch fast durchweg als Negatives: der Justiz- und Gefängnisapparat, die „they“, diese Gewalttäter, menschliche Regungen bestrafenden Moralisten, die die Gefangenen damit nerven zu sagen: ‚hättest Du Dir ja früher überlegen sollen, dann wärest Du nicht hier gelandet, du Dreck‘.

2. Natur vs. kapitalistische Zivilisation

Eine andere, eine gesellschaftstheoretisch-kosmologische Dimension dieses Buchs erscheint in der Schilderung der Beziehungen einzelner Individuen von Kushners Handlung zur Natur. Naturbeziehung erscheint hier im Prisma von Thoreau, dem Unabomber und der fiktiven Figur Gordon Hauser, der quasi thoreautisch zu leben beginnt (91 f.) , und auch, wiederum in der Schlussapotheose, in der zeitweiligen Verheimatung Romys in einer Wildnis, in die sie nach ihrem geglückten Gefängnisausbruch flieht. Kontrastierend dazu bekommt der Leser immer wieder Streiflichter auf eine denaturierte, kapitalistisch-kommerziell durchorganisierte Natur, das Agrobusiness Kaliforniens.

Thoreau empfand wohl als bedrohlich den wachsenden Zugriff des Kapitalismus auf die Natur (Eisenbahn…) und experimentierte mit Verneinung der Warengesellschaft, Naturnähe und Genügsamkeit (dass er auch ein prinzipieller Gegner der Sklaverei war, der im Kampf dagegen zu Militanz und Feindschaft gegen den Staat bereit war, kommt bei Kushner allerdings nicht vor). Die Charaktere im Buch hingegen sind in der Wüste der Welt der billigen und zerstörerischen Waren (Drogen als Hauptbeispiel) und der billigen vom Kapitalismus angebotenen Zerstreuungen gefangen und kommen nicht auf die Idee, das Leben anders anzufangen.

Der radikale Opponent, viel radikaler als Thoreau, ist bei Kushner der Unabomber – als ob das eine Alternative wäre.

Es wird indirekt oder auch direkter von Kushner eine Verherrlichung der Wildnis betrieben, allerdings kein Aufruf zur Zerstörung der kapitalistischen Zivilisation, wie seitens des Unabombers. Problematisch ist mE allerdings, dass dieser als möglicher Gegenpol zur Naturzerstörung durch die (kapitalistische?) Zivilisation ausführlich zitiert wird.

Immerhin ist es in der größeren Naturnähe, dass bestimmte Figuren etwas bewusster ihren Weg finden: Romy in der Schlussapotheose, Hauser in seiner eigenen thoreautischen cabin.

Die Gestaltung des Widerspruchs zwischen Natur (hier von Kushner als Wildnis aufgefasst) und kapitalistischer  Zivilisation bleibt bei Kushner quasi stecken; einige Widerspruchsexponenten erscheinen, sodass der Leser etwas merken soll, aber die inneren Widersprüche der Thoreau, Unabomber, Hauser werden nicht entwickelt. Kulturlandschaft als produktive Entwicklung solcher Widersprüche erscheint hier nicht. Kann es sein, dass die US-Amerikaner mit ihrem Dummkapitalismus nicht weiter kommen als zu Thoreau bzw. einem Unabomber und ewig diese Positionen durchkäuen?

Welche Beziehung hat R. W. Emersons mystisches All- und Allmachtsgefühl zur Schlussapotheose bei Kushner? Ist diese eine Exemplifizierung dieses „transzendentalistischen“ Gefühls, oder eine Weiterentwicklung derartigen Ansatzes? Kann man den überhaupt weiterentwickeln?

Verwunderlich ist jedenfalls die unreflektierte Direktheit solcher mystischen Anwandlungen, die Abwesenheit literarischer Raffinesse, die aus einer Beschäftigung mit kritischer Philosophie resultieren würde. Vielleicht ist auch das typisch US-amerikanisch?

 

3. Sexualität und Warengesellschaft

Romy geht mit Sex rein warenförmig um. Ausnahme vielleicht die Mitteilung, dass sie mit Jimmy Darling für eine kurze Zeit einmal vielen und guten Sex hatte;  anscheinend als Teil einer Beziehung mit einer stärkeren individuellen menschlichen Komponente. Merkwürdig schräg dazu –  zu der fast durchweg praktizierten Beziehungslosigkeit Romys bei ihren prostitutiven Aktivitäten oder überhaupt beim Sex mit einem Mann – steht der von Kushner betriebene oder wenigstens angedeutete Kult der Mutterschaft. Der Vater von Romys Sohn ist auch nur so ein vorübergehendes, im Grunde verächtliches Subjekt. Hat Mutterschaft denn nur eine mechanisch-punktuelle Beziehung zur Männlichkeit?

 

4. Fragen zum US-amerikanischen Kapitalismusmodell

Gibt es in Kushners Roman Konkretisierungen ihrer allgemeinen Sozialkritik auf das US-amerikanische Kapitalismusmodell? Von welchen eigenen sozialtheoretischen Positionen gehen diese Kritiken aus? Sind die wiederum selbst auch „typisch US“? Die Passage über Country Music und Nixon ist eine der interessantesten und direktesten (S. 303-06).

In Kushners Schilderung eines Festivals der Country Music werden 12 Songs mit ihren Interpreten benannt, die 1974 bei der „Grand Ole Opry“ aufgeführt wurden, nachdem der vormalige Präsident Richard Nixon, damals „bereits in Ungnade gefallen“, das Publikum begrüßt und die danach zu hörende Country-Musik über den grünen Klee gelobt hatte: sie sei Herzstück der amerikanischen Seele, verkörpere einfache Werte: Liebe zur Familie, zu Gott und zur Nation. Traditionell, patriotisch und christlich sei diese Musik. So amerikanisch, wie es nur geht, „Sie spiegelt die Werte wider, die unseren Charakter definieren…“. Derartig sind die Worte, die Nixon hier in den Mund gelegt werden (oder ist dieser sein Auftritt ein historischer Fakt?)

Dann aber geht’s zur Sache, nämlich wovon diese Musik tatsächlich handelt.

Teilweise  führt Kushner nur die Interpreten und die einzelnen Titel an, teilweise gibt sie eine knappe Inhaltsangabe. Letztere schon sind an Krassheit schlecht zu überbieten. Die anderen kann man leicht über Youtube abrufen. Wenn man zusammenfassen wollte, wovon sie alle handeln, müsste man von der grundsätzlich scheiternden individuellen Existenz sprechen, von Trunksucht, Psychose, von Morden, Eifersucht, Verbrechen und anderen Entgleisungen.

Diese Seiten sind wohl die direkteste Kritik Kushners an der US-Gesellschaft und der Verlogenheit ihrer politischen Repräsentanz.

Vielleicht oder wahrscheinlich ist das Genre Country Music auch durch das Verhältnis Text-Musik besonders sprechend. Die desolaten gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen die Texte handeln, werden in einer einfältig daherkommenden, meist von einem dämlichen Dur-Optimismus getönten musikalischen Leier vorgetragen, als seien es niedliche Geschichtchen, die so nebenbei ins Ohr tröpfeln.

Wenn Nixon tatsächlich gemeint haben sollte, das Genre sei ur-amerikanisch, hatte er wahrscheinlich recht, doch die quasi-religiöse, erbauliche und patriotische Kraft, die er ihm zuschreibt, ist hier im Konkreten der angeführten Musiktitel  nicht wiederzufinden, sondern etwas ganz Anderes. Oder ist diese Ausgeliefertheit an das individuelle Scheitern, die Vorherbestimmtheit des Abgleitens in Sucht, Verbrechen und Brutalität etwa die tatsächliche religiöse Predigt? Das letzte Wort der US-Mentalität? Oder der US- kapitalistischen Mentalität?

 

Kushner unterlässt hier wie andernorts eindeutige sozialtheoretische Aussagen, Definitionen der geschilderten Verhältnissen; sie schildert Erlebtes bzw. Dokumentiertes und überlässt dem Leser das Nachdenken – zu dem sie gleichwohl nicht wenige Anstöße gibt  in direkterer oder indirekterer Weise.

Ich nehme an, dass viele Kritiker hier hohe literarische Qualität diagnostizieren würden oder werden, möchte ihnen aber nicht vorgreifen, denn ich kenne mich in Literatur, bei den Romanschreibern kaum aus. Möglicherweise verfährt Kushner auch eklektisch unter dem Eindruck früherer literarischer Werke über Fragen von Schuld und Verantwortlichkeit, Gesellschaft und Verbrechen. Sie nimmt stellenweise ausdrücklich Bezug auf Dostojewski, Nietzsche,  Norman Mailer und andere. Kundigere als ich mögen sich mit diesen Beziehungen befassen.


 

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Ich verspreche jede sachlich irgendwie relevante Zuschrift dann im Anhang zu dem betr. Beitrag zu veröffentlichen, auch wenn sie mit meinen Ansichten garnicht übereinstimmen kann.

 

 

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