Gentechnik und Kapitalismus – der „bioethische GAU“ durch Herrn He aus China

Jetzt herrscht große Bestürzung. Auf einer Konferenz in Hongkong hatte ein in dem chinesischen Staatsgebiet arbeitender Gentechniker und Medizinunternehmer mit Namen He Jiankui angegeben, ihm sei gelungen, am Genom zweier inzwischen zur Welt gekommener Mädchen eine – vererbliche  – Veränderung vorzunehmen. Angeblich seien diese Menschen und ihre Nachkommen nun besser gefeit gegen Angriffe des HIV-Virus.

In Stellungnahmen, die mittlerweile in deutschen Blättern zu lesen sind, wird ein Unterschied gemacht zwischen zwei , wie es von den Autoren wohl gesehen wird, grundverschiedenen Feldern gentechnischer Anwendungen: einerseits Verfahren, die Individuen vor bestimmten im Genom verankerten schwersten Krankheiten oder Behinderungen schützen sollen bzw. zur Verhinderung der Geburt von mutmaßlich schwer behinderten Individuen führen (wie im Falle von Trisomie). Und andererseits gentechnischen Eingriffen, die von den betroffenen Individuen ihrerseits vererbt werden und damit ganz anders in die Gesellschaft eingreifen. Der hierfür geprägte Begriff heißt wohl ‚Eingriff in die Keimbahn‘. Dieser ist in Deutschland generell verboten.

Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die schon seit vielen Jahrzehnten immer wieder hervortretenden Tendenzen zu einer sog. „Eugenik“, d.h. zur genetischen Optimierung von relevanten Teilen der Bevölkerung und entsprechenden Abwertung anderer Teile, bereits mehrfach in der Praxis verschiedener Länder, insbesondere auch Deutschlands unter der Nazidiktatur, zu massenhaftem Mord geführt haben.

Ein anderer Aspekt scheint mir mindestens ebenso bedenkenswert. Ich vermisse seine Behandlung in den Medien:

Wenn auf breiter Basis, z.B. in verschiedenen wichtigen kapitalistischen,  d.h. miteinander konkurrierenden Staaten, es sich durchsetzt, dass in den Genpool der Menschheit gezielt eingegriffen werden darf, dann „darf“ man sicher auch Menschengruppen mit überlegenen Eigenschaften – im Umkehrschluss: Menschen mit angeborener Unterlegenheit – produzieren.

Damit käme die kapitalistische Klassengesellschaft auf eine ganz neue Stufe. Die Herrschaft der angeblich Befähigteren und daher zu ihrem Reichtum Berechtigten, auf Kosten der weniger Befähigten und weniger Berechtigten, würde auf biologischem Weg  umumkehrbar gemacht, der Gegensatz zwischen arm und reich, zwischen Machern und menschlichen Werkzeugen würde zur biologischen Grundtatsache, an der keine soziale Reform und keine Revolution mehr  wesentlich etwas ändern könnte.

Der britische Autor Aldous Huxley hatte eine solche – für ihn noch negativ konnotierte – Gesellschaft in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ausgemalt in dem Roman „Schöne Neue Welt“. Darin waren die Methoden zur Verfestigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zwar noch nicht gentechnisch ausgemalt worden, sondern es ging um andersartige Konditionierungen von Embryonen  und um  Rauschgifte, aber die grundsätzliche gesellschaftliche Vision, oder das Horrorbild von Gesellschaft, war bereits ähnlich dem, was nun mit dem „bioethischen GAU“  des Herrn He konkret machbar erscheint.

Wir leben in einer gnadenlosen kapitalistischen Gesellschaft, in der von gewissen großen Profiteuren an verschiedenen Ecken der Welt zwangsläufig immer erneut angedacht und unter der Hand längst gefordert wird: züchtet biologisch Herrscher und Sklaven! Optimiert, ihr Damen und Herren Genwissenschaftler, unsere Klasse derart, dass ihre Mitglieder schon von Geburt an per Genom ihre Zeitgenossen an Intelligenz und Lebenskraft entscheidend überragen – und unserem Land den entscheidenden Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Ländern verschaffen. (Das letztere Ziel eignet sich besser als das erstere für eine öffentliche Propaganda, mit der die ganze Richtung akzeptabel gemacht werden soll.)

Dass in den USA und überhaupt im angelsächsischen Bereich unter der Hand an Solchem geforscht wird, bspw. seitens sogenannter „Transhumanisten“, wie sie u.a. bei Google gefördert werden, ist kein Geheimnis. Überlegenheitschips bzw. Gehorsamkeitschips in Gehirne einpflanzen ist eine weitere dort beliebte Idee mit verwandter Zielsetzung. Dass  im chinesischen Radikalkapitalismus ähnliche Entwicklungen stattfinden, der in ähnlicher Weise keine gesellschaftliche Verantwortung kennt, sondern lediglich die Beförderung des Erfolgs und des Wohlergehens der Reichen, das konnte man sich längst an fünf Fingern ausrechnen, und es überrascht nicht, dass nun aus diesem Bereich der Vorstoß erfolgt, der die bisherigen gesetzlichen und moralischen Hindernisse noch rascher ins Wackeln bringen soll.

Zwar  habe die chinesische Regierung sich umgehend von Herrn He distanziert, heißt es, doch in Wirklichkeit ist nunmehr schon quasi offiziell das Wettrennen zwischen den USA und Verbündeten einer-, China andererseits um die Züchtung der besten Führungsrassen eröffnet. In inneren kapitalistischen Zirkeln der EU dürfte man schon aus Konkurrenzgründen ähnlichen Machenschaften wenig abgeneigt sein.

Der Vorstoß von Herrn He ist vielleicht auf einen ersten Blick die individuelle Anmaßung eines einzelnen Wissenschaftlers bzw. Unternehmers, der vielleicht mit gentechnischen Manipulationen viel Geld verdienen will. Aber eine viel mächtigere Quelle liegt in den Klasseninteressen, die, je weiter der Kapitalismus sich entwickelt und pervertiert, immer arroganter sich artikulieren.

Eine etwas andere Facette, die sich an derartigen Vorstößen gleichfalls wahrnehmen lässt, ist  die Frage der Demokratie. Von einem allgemeinen gleichen Recht, die politischen Repräsentanten zu wählen bzw. sich zum Repräsentanten wählen zu lassen, kann nicht mehr die Rede sein, wenn es gentechnisch optimierte Gruppen von Gesellschaftsmitgliedern gibt, die es einfach besser wissen und können als die große Mehrheit. Die Demokratie fordert, dass die Grenzen zwischen arm und reich, zwischen mehr oder weniger informiert und gebildet immer prinzipiell durchlässig bleiben. Wenn das nicht als Grundforderung und Grundmöglichkeit mehr existiert, ist allgemeine Demokratie unangemessen.

Der „bioethische“ Tabubruch des Herrn He geht weit, weit hinaus über medizinethische Fragen. Er zwingt vielmehr dazu, sich den grundsätzlichsten Fragen der Gesellschaftsordnung endlich wieder zu stellen. Kann die menschliche Gesellschaft mit einem derartigen Kapitalismus noch irgendwie weiter koexistieren? Kann man ihn zähmen, einhegen, zivilisieren? Kann man ihn mit grundsätzlich anderen Formen des Zusammenlebens und Zusammen-Produzierens fundamental herausfordern? Und wer kann und soll Träger dieser Herausforderung in der Gesellschaft sein?

[ich habe hier ein paar Aspekte formuliert, die mE in der Diskussion die Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollten. Ich verfüge über kein medizinisches oder gar gentechnisches Fachwissen, sondern muss meine Ausgangspunkte von dem nehmen, was in der Darstellung der Medien für die breite Öffentlichkeit als Basisfakten figuriert. Ferner kann ich gesellschaftspolitische Fragen, die hier angeregt werden, vorerst nur ganz allgemein und wenig konkret ausdrücken. Trotzdem wollte ich mit einer ersten Stellungnahme möglichst rasch herausrücken. Für Kritik auf beiden Feldern bin ich dankbar.]

 

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