Die öffentliche Diskussion befasst sich zunehmend mit den Fragen der Steuerung menschlichen Lebens durch IT-gestützte Systeme, die alle seine Aspekte beobachten und registrieren sowie das zukünftige Verhalten der Bürger viel intensiver beeinflussen sollen, als bisher Werbung und politische Propaganda es vermocht haben.
Offenkundig sind ja längst Aktivitäten kapitalistischer Konzerne, die wissen wollen, was jemand bereits alles gekauft hat, welche Neigungen und Kapazitäten dem zugrunde liegen und wie man aufgrund solchen Wissens ihn zu allen möglichen weiteren Käufen motivieren könnte.
Was Polizeien und Geheimdienste über die Bürger, ihre politischen Neigungen, ihre Aktivitäten, ihre persönlichen Stärken und Schwächen, z.B. ihre eventuellen Erpressbarkeiten und mutmaßlichen Entwicklungen bereits durch Datensammlung und –analyse wissen, ist allerdings weit weniger bekannt als bspw. Werbetechniken von Google.
Man wäre aber naiv anzunehmen, dass hier nicht längst Möglichkeiten zur Steuerung des politischen Lebens Einzelner wie auch ganzer Gesellschaften erarbeitet und in der Praxis getestet werden. Ein großes Thema ist die Verschmelzung von Datenmaterial aus der alltäglichen Welt, wie es bei Konzernen wie Google, Amazon, Facebook, Apple, den Telekommunikationsfirmen überhaupt, in Massen anfällt, mit Programmen der politischen Steuerung. Nicht nur glänzt bspw. Google des öfteren mit –dämlichen und typisch US-dummen – Ideologemen wie, dass eigene Apps in der Lage sein würden, schwere soziale und politische Probleme zu lösen, an denen die Politikerwelt sich vergeblich abarbeite. Die kommerziellen Datensammler gewähren den Geheimdiensten und somit wahrscheinlich überhaupt politischen Topkräften Zugang zu ihren Datenozeanen.
Weiter in der Verwirklichung solcher Absichten, als es führende Figuren des Silicon Valley anscheinend bisher für sich reklamieren können, ist man wohl in China. Dort verwirklicht die Regierung bereits radikale Steuerungsprogramme, die auch als solche deklariert werden. Dies wird, den Berichten zufolge, in großen Teilen der der Bevölkerung hingenommen; von Kritik daran oder Widerstand wurde hier mW bisher nichts berichtet Die Regierung erfasst die gesamte ökonomische Existenz der Bürger, ihre Beschäftigungsverhältnsse, ihre Einkommen, ihre Käufe, ihre Kredite und sonstigen geschäftlichen Aktivitäten, sie schafft das Bargeld ab, sie registriert politisches Verhalten, Freundschaften, sexuelles Leben, Informiertheit und Meinungen und destilliert aus alledem einen „social credit score“ für die einzelnen Bürger. Je nachdem wie günstig dieser im Sinne der Regierung ausfällt, darf man mit wirtschaftlichen Vorteilen, oder umgekehrt auch mit Verteuerung von Käufen und Krediten, Verboten, Reisesperren etc. pp., ja mit öffentlicher Anprangerung rechnen
-wahrscheinlich fällt aber die Geschäftemacherei höherer Ränge unter den Millionären und Milliardären, die oft in der Parteihierarchie entsprechende Stellungen einnehmen, weniger oder gar nicht unter dieses System und seine Sanktionen, jedenfalls solange die Betreffenden der jeweils dominierenden Clique angehören oder ihr wenigstens nicht zu viele Schwierigkeiten machen.-
Das Ganze nennen die Chefs dort Schaffung einer harmonischen Gesellschaft. Wie es die Chefideologen im Silicon Valley und im US-Apparat, auf ihre eigene Gesellschaft und überhaupt „den Westen“ bezogen nennen, weiß ich nicht, aber der Sache nach dürfte ihnen Ähnliches vorschweben.
Ein Rückblick auf die Geschichte des Kapitalismus und Dystopien totaler Kontrolle
Seit der vollen Entwicklung des Kapitalismus etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit dem oft dominanten Aufkommen großer Konzerne, Kartelle, finanzkapitalistischer Spitzen des Systems, und mit den entsprechenden antidemokratischen Regierungen, ihren Kriegen und Konterrevolutionen, seit der vollen Entfaltung des Imperialismus, d.h. der systematischen kriminellen Ausbeutung großer unentwickelter Teile der Welt haben kritische Köpfe versucht, aus üblen gegenwärtigen Anzeichen warnende Zukunftsvisionen zu destillieren. Sie haben verschiedene künftige Systeme ausgemalt, die durch mehr oder weniger vollständige Kontrolle sämtlicher Bürger, durch Propaganda, Gewalt und/oder Drogen, durch durchgreifende Steuerung all ihres Verhaltens eine Verewigung der Herrschaft anonymer Zirkel über die große Masse garantieren. Die bekanntesten Beispiele solcher Dystopien stammen, im englischsprachigen Bereich, von George Orwell („1984“), Aldous Huxley („Schöne neue Welt“), Jack London („Die eiserne Ferse“). Praktische Versuche allerdings, ähnliche Diktaturen zu errichten, wie seitens der dummen deutschen Nazis, scheiterten bislang, und im Jahre 1984 sah die politische Realität doch etwas anders aus, als Orwell warnend ausgemalt hatte. Andererseits muss man anerkennen, dass es sich nicht um Fantasien einzelner Autoren handelt, sondern um ein literarisches Aufgreifen von Tendenzen, die im Kapitalismus zwangsläufig entstehen und beträchtliche Stärke erlangen können
Der Kapitalismus, vor allem in seiner „angelsächsischen“ Variante, die derzeit v.a. in „Neoliberalismus“ und einer entsprechenden Variante von Globalisierung sich ausdrückt, ist und bleibt allerdings weiter eine höchst krisenhafte, instabile, durch innere soziale Widersprüche und, derzeit vorrangig, durch die neue Entwicklung heftiger internationaler Widersprüche gekennzeichnete „Ordnung“. Eine der beunruhigendsten neuen Zuspitzungen der kapitalistischen Widersprüchlichkeit besteht im Kampf der USA und der neuen kapitalistisch-imperialistischen Großmacht China um die Welthegemonie.
In den letzten Jahrzehnten wächst erneut, vor allem in den kapitalistischen Großmächten selber, das Streben nach umfassender Kontrolle und nach Planbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklungen im Sinne der kapitalistischen Oligarchien. Und mit den ständigen rasanten Weiterentwicklungen der Technik der Datensammlung, -speicherung und –ausnutzung erfasst neuer Optimismus die Fans der umfassenden Diktatur.
Wie sich mit den neuen praktisch werdenden Dystopien auseinandersetzen?
Es ist für einen einfach demokratisch empfindenden Bürger einfach widerlich, was da auf die Gesellschaften zurollt und bereits in Ansätzen praktiziert wird. Doch werden politische Kämpfe um Datenschutz nicht ausreichen, diese Wellen zu brechen. Erforderlich ist u.a. auch eine Auseinandersetzung um elementare soziale Fragen.
Warum bspw. gibt es in unseren Gesellschaften so viel Desinteresse an der Frage, wer von uns welche Daten bekommt und was damit gemacht wird? Warum sind die allermeisten willige oder jedenfalls wenig besorgte Daten-Grundversorger eben derjenigen Firmen und Schatteninstanzen, die ziemlich unverhohlen an Diktaturmodellen arbeiten, die bisherige Faschismen locker in den Schatten stellen? Man nimmt die Bereicherungen des Lebens, die von Google etc. pp. ermöglicht werden, gern an, entwickelt aber zu wenig eigenes, gesellschaftliches, kritisches Denken.
Warum kommt die Regierung in China anscheinend noch viel leichter in der Praxis voran mit ihren schauderhaften Steuerungsprogrammen, als wir das im Westen für unsere Gesellschaften bemerken können?
Letztere Frage stelle ich mit dem Vorbehalt, dass der Unterschied tatsächlich in etwa so besteht, und dass nicht durch unsere Medien etwa die Entwicklung in China heftiger dargestellt wird als sie ist, und im Kontrast die Entwicklung in USA/Europa verschleiert oder beschönigt wird.
Laufen unsere Gesellschaften und die Chinas auf Verhältnisse zu, in denen große Teile der Bevölkerungen der individuellen Manipulation durch Medien und soziale Netzwerke ausgeliefert sind bzw. sich sogar selbst ohne große Bedenken ausliefern? In denen Steuerungen ihres politischen Verhaltens, ihrer sozialen Beziehungen durch Programme der Herrschenden wirksam werden, von denen sie nichts bemerken bzw. denen sie unter Androhung von Nachteilen/Versprechungen von Vorteilen immerhin folgen?
Allgemeiner gesprochen: schaffen die herrschenden Kreise sich bereits mehr oder weniger erfolgreich verfügbare Massen von Bürgern, die im Alltag den erwünschten Mustern relativ reibungslos folgen, und deren politisches Wohlverhalten durch subtilere Einflüsse herbeigeführt wird, als es bisher mit herkömmlichen autoritären oder faschistischen Methoden, mit Polizeistaat, Militärdiktatur etc. bewirkt werden konnte (letztere bleiben natürlich noch immer in der Hinterhand)?
Und lassen sich solche „verfügbaren Massen“ (wie ich sie hier einmal vorläufig benennen möchte) unter verschärften Umständen mit den neuen IT-gestützten Mitteln noch weiter transformieren in Mobs, die ihre jeweiligen Herrscher sogar aktiv unterstützen, über ihre Siege jubeln, an ihren Beuten teilhaben wollen und Gegner niedermachen?
Unter welchen sozialen und kulturellen Verhältnissen sind derartige negative Entwicklungen vorstellbar bzw. bereits im Gange? Die gesellschaftlichen Grundlagen für Derartiges müssen in Betracht gezogen werden. Die demokratische Gegenwehr gegen den kapitalistischen IT-Faschismus – wenn zum ersten solche Schlagworte erlaubt sind, um das Thema zu umreißen – muss an den gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen ansetzen.
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Die folgenden Ausführungen wurden angeregt durch zahlreiche Berichte aus China, in denen von Widerstandslosigkeit, sogar ausdrücklicher Akzeptanz in großen Teilen der Bevölkerung gesprochen wird gegenüber der Durchsetzung umfassender Steuerungssysteme durch die Regierung. Diese stützt sich dabei u.a. auf die Datenozeane, die ihnen Handels-, Finanz- und Informationsfirmen bereitwillig zuspielen. Besonders hervor tritt hier der Multimilliardär Jack Ma, der Boss des Handelsimperiums „Alibaba“, der übrigens auch enge Beziehungen in die USA unterhält und politisch für ein Zusammengehen Chinas und der USA eintritt. ( Über Ma‘s öffentliches Eintreten für die lückenlose Erfassung des ökonomischen Lebens einschließlich auch der individuellsten Aktivitäten und Bedürfnisse in der Bevölkerung sind noch einige besondere Bemerkungen erforderlich, die ich demnächst nachliefern möchte. Ma fantasiert in der Tat von einem „planwirtschaftlichen“ „Kommunismus“, der sich auf diesem Wege erreichen lasse. )
Derartige Berichte regen die Fragestellung an, warum dergleichen in den beiden anderen vergleichbar starken kapitalistischen Zentren, den USA und Europa, anscheinend nicht bisher so weitgehend durchgesetzt werden kann und Personen, die ähnliche Visionen hegen mögen, sie der Öffentlichkeit bisher nicht so direkt präsentieren.
Ich versuche der Frage der Bildung solcher „verfügbarer Massen“ näher zu kommen, indem ich die drei Gesellschaften, die USA, China und Europa unter folgenden Gesichtspunkten beschreibe und vergleiche:
I.
Wie kommen die jeweiligen Gesellschaften zu ihrem Reichtum? Welche Rollen spielen die innere und die äußere Ausbeutung?
Im Falle der USA liegt es bspw. auf der Hand, dass deren finanzielle Kapazitäten schon seit längerem immer weniger auf der ständig reduzierten internen Produktion, sondern auf den Mitteln beruhen, die sie aus der gesamten Welt herausziehen, durch ihre dominierenden Finanzinstitutionen, durch ihre weltweit tätigen Konzerne, seien das Unternehmen wie Apple oder die altherkömmlichen Ölmultis wie Exxon, durch den „Dollarimperialismus“ etc pp. , aber auch durch die immensen Zuflüsse von Kapital der ganzen Welt, insbesondere Chinas, Japans und Europas in die Staatsverschuldung der USA, M.a.W. von wessen Arbeit hängt die Lebenshaltung der Massen in 1. Linie ab, von eigener produktiver Arbeit? Oder stammen essentielle Teile ihrer Einkommen letztlich aus der privilegierten Stellung ihrer Bourgeoisie in der Welt und der krassen Ausbeutung, die diese anderswo betreibt?
II.
Welche geschichtlichen Traditionen, welches kulturelle Selbstverständnis prägen die jeweiligen Gesellschaften?
Im Falle China bestehen bspw. jahrtausendealte und weiterhin lebendige Traditionen der weitgehenden Ein- und Unterordnung des Individuums unter bürokratische Institutionen.
III.
Wie unterscheiden sich in der gegenwärtigen historischen Situation die Aufgaben, die sich diese Gebilde, vertreten durch ihre kapitalistischen und politischen Führungen, für ihre jeweiligen künftigen Rollen in der globalen Gesellschaft zuweisen?
Wie sieht das Selbstverständnis aus, das sich in den USA, in China, in Europa, repräsentativ artikuliert? Selbstverständlich geht es hier um strategische Vorstellungen, die in den jeweiligen Gesellschaften durchaus strittig sind, und es existieren in ihnen mit Sicherheit sehr viele Varianten. Aber es spielt hier sicher eine ausschlaggebende Rolle, dass die USA sich noch immer als der Welthegemon verstehen, der seine kapitalistische und „demokratische“ Ordnung der Welt aufzuprägen und wenn nötig mit extremster militärischer Gewalt durchzusetzen berufen sei. Als direkte Antwort darauf propagiert die chinesische Führung den weiteren Aufstieg des eigenen Landes in kapitalistischer Potenz und Militärmacht in dem Sinne, dass es die USA als die Macht Nr. 1 in der Welt zu verdrängen gelte, angeblich um eine „multipolare“ globale Ordnung durchzusetzen. Ich verstehe das Bestreben allerdings durch aus so, dass es um eine chinesische Welthegemonie geht. Es kann keine kapitalistische Supermacht Nr. 1 geben, die wesentlich anders sich aufführt als wir es von den USA kennen. Und es kann kaum einen Zweifel geben, dass die chinesischen Machthaber jetzt an jahrtausendealte Traditionen Chinas anknüpfen, sich als den Mittelpunkt der Welt aufzuspielen und zu meinen, alle übrigen müssten sich der ang. überlegenen chinesischen Kultur beugen (s. meine kritischen Bemerkungen zu dem Buch des britischen Autors Martin Jacques in diesem Artikel).
Welche Rolle sich Europa in der neuen Welt der amerikanisch-chinesischen Rivalität selbst zuschreibt, in der chaotischen globalen Szenerie vieler meist zurückgebliebener, aber um mehr Gleichberechtigung und Entwicklung kämpfender Staaten, Völker, Regionen, die zusammen mit mehr als 5 Milliarden Menschen die große Mehrheit bilden gegenüber den ca. 2,2 Milliarden der drei großen Zentren (China 1,3 Mrd., Europa knapp 500 Millionen, USA ca. 330 Millionen Menschen) – das ist unbekannt, diese Frage ist bisher kein öffentliches Thema, kein Thema, das die Bürger überhaupt erreicht, geschweige denn bewegt. Demgegenüber gibt es in den USA wohl noch immer erhebliche Teile der Bevölkerung, die man mit imperialistischen Parolen agitieren kann, und in China würde die Propaganda von der eigenen globalen Führungsrolle sicher nicht von der Regierung dermaßen dick aufgetragen, wenn sie nicht bei erheblichen Teilen der Bevölkerung positive Resonanzen auslöste.
Nun etwas ausführlicher zu China:
Die Vorstellungen der gegenwärtigen kapitalistischen Machthaber, man könne und solle eine umfassende Steuerung des Verhaltens jedes Einzelnen und der gesamten Bevölkerung anstreben, haben eine enorm starke traditionelle Grundlage: seit mehr als 2000 Jahren ist China unter einer starken zentralen kaiserlichen Macht mit einer umfassenden Bürokratie organisiert worden. Selbst in der relativ kurzen Periode der antifeudalen und antiimperialistischen Revolution, gekennzeichnet durch die Gründung der VR China im Jahre 1949, und in der folgenden Zeit der Ansätze zum Sozialismus unter Mao Zedong ist offenbar das zentralistische starre bürokratische System nicht grundstürzend verändert worden, auch wenn dieser etwas wesentlich Anderes angestrebt und zuletzt in der Kulturrevolution mit letzter Anstrengung durchzusetzen versucht hat. Nach Ansicht des bedeutenden Chinakenners und Schriftstellers William S. Hinton lebt das traditionelle bürokratische System im Apparat der Kommunistischen Partei Chinas selbst weiter.
Entsprechend muss es in China auch bei vielen Menschen eine Tradition, eine Mentalität geben, dass man als Individuum sich der Bürokratie zu fügen hat, dass es mehr um das Funktionieren des Ganzen als um individuelle Freiheit und Entfaltung gehe.
Andererseits hat China auch bedeutende revolutionäre Traditionen. Ein herausragendes Beispiel aus der Zeit vor den enormen Umwälzungen, die im 20. Jh. erkämpft wurden, ist der große bäuerliche Aufstand des „Taiping-Tiänguo“ im 19. Jh.
Einer der Hauptunterschiede zu Europas Geschichte liegt im Fehlen einer langen historisch prägenden bürgerlichen Revolution und der entsprechenden Kultur. In Europa konnte die bürgerliche Revolution, die in Frankreich ab 1789 den königlichen Absolutismus und die feudalen Strukturen auf dem Lande vernichtet hat und auf ganz Europa beispielgebend ausgestrahlt hat, bereits zurückblicken auf Zeiten, als die Agrargesellschaft und der Aberglaube noch dominant gewesen waren. Die Agrargesellschaft war jedoch in China im Jahre 1949 nach der Vertreibung der japanischen Imperialisten und der Niederlage der von den USA unterstützten Guomindang noch völlig dominant, und erst mit der Gründung der VR China im Jahre 1949 beginnen nach und nach modernere Verhältnisse. Noch heute lebt fast die Hälfte der chinesischen Bevölkerung auf dem Land.
Die Entstehung bürgerlicher Rechtssysteme, von Parteien und ihrer Demokratie, einer gesellschaftsprägenden Arbeiterklasse unter einem modernen Kapitalismus und einer öffentlichen Kultur, die all dies widerspiegelt und auch vieles voranbringt – von alledem konnte in China zu keiner Zeit die Rede sein. Damit will ich nicht einer absoluten Vorbildlichkeit der europäischen Entwicklung das Wort reden. Es geht zunächst einmal darum, sich tiefgreifende Unterschiede, in Jahrtausenden gewachsene spezifische Bahnen der Entwicklung klarzumachen.
Erst in den letzten Jahrzehnten entsteht in China eine Arbeiterklasse, die im Hinblick auf ihre Masse und ihre ökonomisch-soziale Bedeutung für die gesamte Gesellschaft als potentiell entscheidende Kraft sich abzeichnet. In dieser Zeit haben die chinesischen Machthaber im Gefolge von Deng Xiao-Ping, der die kapitalistische Wende vollzogen hat, das Land und die zuvor noch größtenteils bäuerliche Bevölkerung einer fast schrankenlosen kapitalistischen industriellen Ausbeutung preisgegeben, deren Macher und Profiteure das internationale Kapital Hand in Hand mit einer neuen inneren Bourgeoisie ist. Ob aber überhaupt, oder ggf. wann, diese neue chinesische Arbeiterklasse sich als „Klasse für sich“ sich konstituieren wird, ist unklar.
Noch scheinen in China Grundstrukturen des alten mehr als zweitausendjährigen kaiserlich-bürokratischen Herrschaftssystems in Kraft; die Parteibürokratie rekonstituiert sich in den letzten Jahrzehnten als Inhaberin der entscheidenden kapitalistischen Machtpositionen. Mao Zedongs immer erneutes Anrennen gegen diese quasi urchinesischen Strukturen, zuletzt in großer Radikalität in der Kulturrevolution, konnte diese erschüttern, aber nicht besiegen.
Wenn heute bürokratische Steuerungssysteme errichtet werden, die an die alten kaiserlichen anknüpfen, aber aufgrund der IT viel tiefer zu wirken versprechen, dann muss man eben fragen, woher die generelle Unterstützung rührt, die trotzdem für eine derartige Regierung weiterhin vorhanden scheint. Vielleicht muss es erst nach altchinesischem Muster zu einer alles umfassenden tiefen Krise kommen, bevor ihr das „Mandat des Himmels“ abgesprochen werden kann.
Mehr noch:
In China gibt es heute sicher mehrere hunderte Millionen Menschen, deren relativer ökonomischer Aufstieg mit dem modernen chinesischen Kapitalismus verbunden ist und die wohl noch weiterhin zu großen Teilen weitere ökonomische Verbesserungen von dem nunmehr seit rund 40 Jahren herrschenden System erhoffen. Seitens der gleichfalls mehrere hunderte Millionen starken Teile der Bevölkerung, die sich als Wanderarbeiter in diesem System durchschlagen müssen, wird zwar nicht selten zum Arbeitskampf gegriffen, sie bilden aber, soweit von hier aus erkennbar, noch keine schlagkräftigen gewerkschaftlichen oder gar politischen Organisationen.
Schließlich muss beachtet werden, dass die inneren Verhältnisse Chinas zunehmend unter den Einfluss der kapitalistisch-imperialistischen Expansion nach außen geraten, die chinesische Kapitalisten zusammen mit den politischen Machthabern in Angriff genommen haben: die mehr oder weniger neokoloniale Erschließung Afrikas, und die Gewinnung des gesamten westlich von China bis nach Europa sich erstreckenden asiatischen Raumes als ökonomisches Vorfeld, als Investitionsgelände und als Machtglacis. Diese Pläne sind unter den Stichworten OBOR („One Belt One Road“, d.h. eine maritime und eine Landverbindung Chinas zum Westen, nach Europa und Afrika hin, und „Neue Seidenstraße“ bekannt. Angestrebt wird ein Doppelkontinent „Eurasien“ unter chinesischer Vorherrschaft, der auch Russland und die westlicheren europäischen Staaten in Abhängigkeit bringen soll.
Wenn diese enormen internationalen kapitalistischen Expansionsprogramme auch nur teilweise, außer in Afrika wenigstens auch in Zentralasien, in die Realität umgesetzt werden, dürften sie Teilen der chinesischen Bevölkerung Anteile der zusätzlichen imperialistischen Erträge zufließen lassen und Anhänglichkeiten an dieses System befördern.
So weit einige Gesichtspunkte, die im Falle Chinas zum Verständnis beitragen könnten, wieso es dort zur Bildung verfügbarer Massen und u.U. imperialistischen Mobs kommen kann und wohl auch kommt. Ich hoffe darauf, dass Kenner des Landes mir zu viel Pessimismus nachweisen, bzw. dass reale demokratische Entwicklungen in China mich praktisch eines Besseren belehren.
Zu den USA:
Die USA sind bereits seit dem Ausgang des 1. Weltkriegs 1918 die ökonomisch und politisch-militärisch dominierende Macht des Weltkapitalismus und haben diese Stellung bis heute weiter ausgebaut, kommen allerdings in den letzten Jahren durch den Aufstieg Chinas dabei zunehmend in Schwierigkeiten. Chinas erklärtes Ziel ist die Beendigung der Welthegemonie der USA und das Aufrücken Chinas an ihre Stelle. Auch die sich andeutende Verselbständigung Europas v.a. in Gestalt der EU nagt an der US-Hegemonie.
Die inneren Verhältnisse der USA sind, ganz anders als die bisherigen Chinas oder etwas anders als die der heutigen europäischen Länder, bis heute, und in den letzten Jahrzehnten sogar weiter zunehmend, durch externe weltweite Ausbeutung (bspw. in Formen des Neokolonialismus) geprägt.
Große Teile der US-Bevölkerung einschl. der immensen Zahlen der inzwischen weitgehend Abgehängten haben es bisher anscheinend nicht nötig, sich mit solchen Tatsachen auseinanderzusetzen wie ihrer eigenen ökonomischen Abhängigkeit von den enormen imperialistischen Extraprofiten, die ihrem Land aus Blut und Schweiß der Milliarden sonstiger Erdenbürger zufließen, die das Pech haben, in irgendeiner direkten oder indirekten Form für US-Firmen zu arbeiten und politisch in den militärischen und geheimdienstlichen Netzen gefangen zu sein, die der Staat USA zum Schutz seiner weltweiten Kapitalinteressen ausspannt.
Zwar spielt auch in Europa Neokolonialismus, wie bspw. durch Frankreich und andere in Afrika, noch eine gewisse Rolle, und insbesondere in den früheren Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich sind durchaus noch widerwärtige Relikte imperialistischer Mentalität zu bewundern, doch sind die ökonomischen und militärischen Dimensionen im Verhältnis zu den USA bescheiden. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass gerade die europäischen Länder, darunter ganz besonders auch die BRD, an der imperialen Welthegemonie der USA als lange Zeit engste Verbündete kräftig mitprofitiert haben und noch heute ohne das – inzwischen allerdings wackelnde – militärische Bündnis mit den USA ziemlich nackt dastünden, etwa gegenüber Russland und perspektivisch auch gegenüber China.
Was die Grund-Fragestellung nach den gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen der modernen kapitalistischen Steuerungsfantasien betrifft, so könnte man vielleicht in Bezug auf die USA vermuten, dass massive Grundlagen für die Herausbildung imperialistischen mobs bestehen und weiter entwickelt werden – aufgrund der jahrzehntelangen Wohlgenährtheit großer Teile der Bevölkerung durch eine gewisse Teilhabe an den imperialistischen Profiten, aufgrund ihrer weitgehenden Entfernung von jeder Art produktiver Arbeit insbesondere in den letzten Jahrzehnten, aufgrund der permanenten Gehirnwäsche durch die Hollywood-Kultur und der weitgehenden politischen Entmündigung. In den USA kann man immer noch seitens gewisser Politiker öffentlich mit imperialistischer Propaganda-Idiotie kommen, z.B. dass die USA das beste System weltweit seien, dass die USA an die 1. Stelle gehörten und ihnen, d.h. gerade den benachteiligten gesellschaftlichen Teilen, von bösen ausländischen Kräften schweres Unrecht getan werde. Es war allerdings nicht China, das den amerikanischen Arbeitern ans Leder wollte, sondern das US-Kapital selbst war es, das ihnen deren Existenzgrundlagen durch die Verlagerungen nach China, Mexiko und sonstwohin entzogen hat. Trotzdem scheint es noch gewisse verfehlte Loyalitäten zum eigenen Kapitalismus zu geben. Silicon Valley und andere bauen auf dergleichen traditioneller imperialistischer Erziehung auf. Sie arbeiten daran, die Massen mit – teilweise geheimen – Netzwerken zu überziehen, die kulturellen und politischen Dämmerschlaf verbreiten und aus denen keine Befreiung mehr möglich sein soll, wenn diese sich einmal regen sollten. Volle Kontrolle ähnlich dem chinesischen archaischen kaiserlich-bürokratischen System, wie dort in moderne KI umgesetzt, ist kaum verhülltes Ziel der entsprechenden Akteure im Silicon Valley .
Gleichwohl muss man auch in Betracht ziehen, dass es weiterhin in den USA auch lebendige kritische Gegenbewegungen gibt. Die USA haben auch eine Tradition unabhängigen Denkens, radikaler Kritik am eigenen System, und ggf. rebellischer politischer Organisation. Diese Tradition ist noch nicht tot und wird wohl auch so leicht nicht zu erledigen sein. Es geht dem Silicon Valley bei der Entwicklung Orwellscher Modelle auch gerade darum, die vorhandenen demokratischen Elemente der US-Gesellschaft auszuhebeln.
Zu Europa:
Die aktuell sich andeutende politische Emanzipation Europas ggü. den USA, auch die politischen Allergien ggü. dem russischen System und dem kruden Vorherrschaftsanspruch Chinas, stützen sich, wenn wir einmal die positiven Momente anführen, auch auf ungleich größere „kulturelle Tiefe“. Ganz vereinfacht gesprochen: auf viel umfangreichere historische Erfahrungen im Kampf um Fortschritt und menschliche Freiheit, als sie auf dem amerikanischen Kontinent oder im Reich der Mitte bisher gemacht werden konnten. Die politische Kraft, die sich u.a. aus solchen Quellen entwickeln kann, sollte man nicht unterschätzen.
Man weiß allerdings auch nicht, ob es nicht in den USA zu radikalen und erfolgsfähigen Gegenbewegungen gegen den „IT-Faschismus“ kommt.
Trotz mannigfaltiger Erscheinungen der Veroberflächlichung, politischer und kultureller Abschlaffung, die das Kapital im Interesse durchgreifenderer Herrschaft auch hier in Europa fördert, sind mE die Möglichkeiten für solche Orwellereien, wie sie in China und seitens des Silicon Valley greifbar erscheinen, in Europa weniger günstig. Ein weiterer Unterschied zu den USA liegt in der geringeren Entindustrialisierung.
Stehen dem Voranschreiten der Kontrollapparate in Europa also vielleicht eher Grenzen entgegen? Weil der europäische Kolonialismus und Imperialismus, im 18. und 19. Jahrhundert weltweit expandierend, dann im 1. Weltkrieg sich weitgehend selbst ausblutend und einerseits den USA, andererseits der neuen Sowjetunion und den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt gezwungenermaßen Raum gebend, ein gescheitertes Modell ist, verfängt imperialistische Vereinnahmung der Massen, wie sie China und auch teilweise noch den USA zu beobachten ist, hier weniger.
Kann man hier also leichter an spezifische, an europäische kulturelle Gegebenheiten appellieren, um die kapitalistischen Orwellereien zu bekämpfen?
Was dem entgegensteht: der europäische Kapitalismus betreibt mit seinen international tätigen Konzernen, seinen finanzimperialistischen Fangarmen etc. selbstverständlich eine ganz ähnliche internationale Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und der natürlichen Grundlagen wie der US-Imperialismus und wie es auch der aufsteigende chinesische Imperialismus erkennen lässt. Bisher konnte er dies insbesondere unter dem Schirm der US-Welthegemonie tun. Einen eigenen weltweiten militärischen Schirm konnte er weder beanspruchen, noch wollte er dies ernsthaft, schon einmal aus Kostengründen. Insbesondere hat der deutsche Kapitalismus sich unter diesem System globale ökonomische Führungspositionen in bestimmten Industrien und Branchen erobern können. Daraus folgt, dass die herrschenden Kreise Europas, auch und gerade Deutschlands, ein eigenes Interesse an der imperialistischen Verblödung, Manipulation und Steuerung haben, wie sie ihnen die Schlauen vom Silicon Valley , aber auch die eigenen Medien, Polizeien etc. zu liefern versprechen.
Nun aber mehren sich die Anzeichen von Panik im europäischen System, seitdem in den USA deutlich erkennbar wird, dass man dort an drastische Veränderungen denkt, um die eigene Hegemonie wieder zu stärken, vor allem angesichts der chinesischen Herausforderung. Manche Geschäftsleute und Politiker in Europa meinen anscheinend, dass man unter dem kommenden Schirm Chinas vielleicht ähnlich günstige Erfahrung machen könne wie unter dem bisherigen der USA. Das wäre ein Irrweg.
Aus derlei Gründen ist die künftige Rolle Europas in der Welt, im engeren Sinne auch die des europäischen Kapitalismus mit seinen bisherigen relativen Erfolgen, inzwischen höchst fraglich geworden. Es gibt dafür noch keine Vorschläge, die neue Lage wird nur in Ansätzen überhaupt thematisiert, ein Selbstverständnis für die künftige europäische Rolle in der Welt gibt es nicht in Ansätzen. Gleichwohl müssen die Fragen ins Zentrum. Eine positive Auswirkung all dieser Schwächen des europäischen Kapitalismus ist immerhin, dass er unter der Fahne der Ausbeutung und Vergewaltigung großer Teile der übrigen Welt schlecht wird nach innen hin Propaganda machen können; das unterscheidet ihn immerhin graduell, vielleicht sogar prinzipiell von den Möglichkeiten, die man in China und den USA sieht.
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Die bisherigen Ausführungen galten bestimmten Problemen der Massenbeeinflussung und politischen Steuerung insbesondere durch IT-gestützte Systeme der kapitalistischen Herrschaft in den drei entwickeltsten kapitalistischen Gesellschaften, den USA, Europa und China. Völlig außer Betracht blieben der größere Teil, die meist viel ärmeren Länder und Bevölkerungen auf dem Globus, wo wiederum andere ökonomische und kulturelle Grundlagen gegeben sind. Selbstverständlich kämpfen dortige Herrschaftssysteme selbst um die Verfügbarkeit der Massen für ihre Ziele, und diese Bemühungen werden überlagert und durchaus auch oft durchkreuzt durch die Systeme der großen Machtblöcke, die um Anhang ja nicht nur in den eigenen direkten Herrschaftsbereichen kämpfen, sondern auch unter den globalen Massen.
Abschließend zusammenfassend nochmals einige Fragen:
Was muss in Europa bekämpft, was gestärkt werden? Und anderswo? Und wie sind Oppositionen hier und dort miteinander verknüpft bzw. bewusst zu verknüpfen? Welche Rolle spielen direkte soziale Gegenbewegungen, Arbeiterkämpfe bspw.? Und muss nicht auch berücksichtigt werden, dass der Kapitalismus global nach wie vor sehr unterschiedliche soziale und kulturelle Ausprägungen aufweist, die sich zunehmend in Auseinandersetzungen, sogar Konfrontationen untereinander verwickeln? Dass die rivalisierenden Machtblöcke auch um Einfluss im Machtbereich des jeweiligen Gegners kämpfen, was eben durch die IT-Systeme erleichtert und gefördert wird, deren Leiter andererseits auf die maximale Kontrolle im eigenen Machtbereich aus sind? Und wird es erneut zu Konfrontationen armer Nationen bzw. Bevölkerungsteile mit dem internationalen imperialistischen Regime kommen, ähnlich wie in der Zeit der Entkolonialisierung? Einer Entkolonialisierung, die offenbar keineswegs beendet ist, sondern in vielen Aspekten weiterhin notwendig ist?
Auch solche Fragen gehören unmittelbar zur Erfassung und Kritik der modernen Herrschaftstechniken des Kapitalismus.
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