Stuttgart

Ich habe nur wenige journalistische Produkte zu den Ereignissen bisher zur Kenntnis genommen, aber sie reichen aus, Fragen nach allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen anzuregen.

Man muss wohl über die vordergründigen Hintergründe etwas hinausgehen, die medial behandelt werden – etwa Fragen nach der anscheinend ziemlich „toleranten“ Haltung der Stuttgarter Verwaltung und des Landes Baden-Württemberg zur langjährigen Entwicklung einer drogen- und alkoholgetränkten, schon seit längerem ständig ins Kriminelle hinüberspielenden sog. Partyszene in der Hauptstadt. Die Tatsache, dass dergleichen sich unter den Augen und der Verantwortung von Politikern der „Grünen“ (Stadt Stuttgart und Land) so massiv hat entwickeln können, gibt natürlich bestimmten Kritikern einen Schub, die die eigenartige Offenheit dieser Partei gegenüber Rauschmitteln schon länger beobachten – einer Partei, die gleichzeitig dem württembergischen behäbigen, relativ reichen Spießer anscheinend so lieb ist.

Aber es würde ablenken, jetzt diese spezielle Verbindung zu betonen.

Eine viel wichtigere Frage könnte etwa so formuliert werden: was ist das für eine Gesellschaft, die seit langem immer mehr mob hervorbringt? Mob, dem es nicht mehr genügt, bloß  bekifft und besoffen herumzuhängen, was längst schon Massen zu tun pflegen, sondern der besonderes Vergnügen und eine Steigerung seines Lebensgefühls an solchen Akten zu finden scheint, wie sie jetzt aus Stuttgart berichtet werden, an Aggressionen gegen alles Mögliche, gegen seinesgleichen eingeschlossen? Mob, wie er sich im Umfeld der Fußballspektakel zusammenfindet und zu Schlägereien organisiert? Mob, der sich – in kleineren Teilen – einen Spaß daraus macht, den Nazi zu spielen und mit politisch provokanter Kriminalität die beflissene Aufmerksamkeit des Medienapparats zu erwirken?

Man kann derartige Fragen nicht angehen, indem man bloß nach der Verantwortung dieser oder jener Partei, dieser oder jener Regierung, dieses oder jenes Polizeipräsidenten fragt. Die Frage geht nach dem Gesellschaftssystem, das sich dergleichen leistet. Man muss auch fragen, ob es sich das bloß leistet, etwa weil man eben nicht jede negative marginale Entwicklung kontrollieren könne, oder ob es nicht durch seine eigenen Strukturen in solche Richtungen tendiert. Ein Gesellschaftssystem, in dem viel zu viel an dümmstem kapitalistischem Egoismus sich durchsetzen kann und medial regelrecht propagiert wird, in dem billigstes asoziales „Vergnügen“ a la Ballermann als Krönung vitaler Aktivität verkauft wird, in dem die Information, die Bildung und die soziale Erziehung der Jugend zur lästigen Nebensache verkommt.

Sind solche Charakterisierungen etwa weit hergeholt oder übertrieben?

In der Geschichte finden sich längst mehrere Beispiele dafür, wie reiche Oberschichten ihre Herrschaft zeitweise – und zeitweise durchaus erfolgreich – auf die Existenz eines umfangreichen mobs gegründet haben, den sie gegen demokratische und reformerische oder revolutionäre Bestrebungen ausspielen konnten. Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von 1851 bis 1870 von einem Abenteurer und Schwindler namens Napoleon III. regiert, der sich einerseits auf militärische Gewalt und alle möglichen etablierten Reaktionäre, andererseits auf politisch und moralisch orientierungslose Unterschichten, eben einen mob stützte, den er mit kleinen Sozialbonbons und gigantischen shows an sich binden konnte. Die deutschen Nazifaschisten verfuhren ähnlich gegenüber Demokratie und sozialem Fortschritt in Deutschland. Beide waren fundamental orientiert auf koloniale Eroberungen.

Verschiedene Erscheinungen des sozialen und politischen Verfalls in den heutigen USA lassen sich ähnlich deuten. Wenn ein Trump nach oben kommen kann, dann ist das nicht nur der Unterstützung aus Teilen der Milliardärsschichten zu verdanken, sondern auch der Tatsache, dass erhebliche Teile der Bevölkerung politisch völlig unterbelichtet und/oder aus sozialer Bedrängnis heraus durch billige shows verführbar geworden sind. [i]

Solche gesellschaftlichen Verrottungstendenzen sind auch in  unserem Land anscheinend mächtiger als bisher eingestanden. „Stuttgart“ ist mittlerweile weder besonders einzigartig noch besonders überraschend. Entsetzt und überrascht zeigen sich jetzt gerade solche Politiker und medialen Größen, die die negativen sozialen Entwicklungen bisher haben laufen lassen, in Kauf genommen oder sogar direkt mit angespitzt haben, wie die Vertreter des „Rechts auf Rausch“ – aber keinesfalls nur diese, sondern die vielen, die kapitalistischer Asozialität keinen oder zu wenig Widerstand entgegensetzen bzw. sich selbst munter darin betätigen.

[i] Damit will ich, wohlgemerkt, nicht sagen, dass die politischen Rivalen Trumps mehr demokratische Qualitäten hätten, und auch nicht, dass Trumps bisherige Abneigung gegen neue Kriege schlecht wäre.


 

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