Auf dem Globus leben, bei einer Gesamtbevölkerung von derzeit ca. 7,5 Milliarden Menschen, heute noch mehrere Milliarden unter agrarischen Verhältnissen. Sehr viele von ihnen können davon kaum leben. Viele sind nicht oder nur wenig eingebunden in lokale, regionale oder internationale Märkte, d.h. die sog. Subsistenzwirtschaft spielt noch eine große Rolle.
Die traditionellen Formen der Subsistenzwirtschaft oder der halben Subsistenzwirtschaft, die in der Vergangenheit vielen Menschen, bspw. in Afrika, noch die Existenz ermöglicht haben, wenn auch auf unterstem Niveau, genügen jedoch nicht mehr dem Bevölkerungswachstum; sie verlieren zudem ihre Räume an den zugreifenden internationalen Agrarkapitalismus, sie werden von klimatischen Veränderungen eingeschränkt; sie genügen vor allem auch den veränderten Ansprüchen der bisher so Lebenden nicht mehr.
Erhebliche Teile der Weltbevölkerung befinden sich aus solchen Gründen in der Flucht aus solchen Verhältnissen, indem sie in die städtischen Zentren ziehen, ohne dort jedoch Arbeit zu finden, die sie und ihre Familien so ernährt, dass sie Anschluss an zivilisatorische Standards finden, bspw. anständige Wohnungen sich leisten können, Anschluss an Bildung und Kultur bekommen, medizinisch versorgt werden und soziale Sicherungssysteme beanspruchen könnten.
Sie leben in Slums, wie beispielsweise in Indien oder Lateinamerika; im Falle Chinas leben sie als Wanderarbeiter in städtischen Ballungsgebieten, was wohl eine Existenzform etwas oberhalb des Slums bedeutet, jedoch mit dieser leider auch viele Gemeinsamkeiten hat.
Für die mehr oder weniger in allen Ländern herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssysteme, die in unterschiedlichem Maße in die globalisierte kapitalistische Ökonomie eingebunden sind, ohne derzeit eine Chance zu haben, sich daraus auszukoppeln, sind große Teile dieser Menschenmassen „überflüssig“. Nur Teile davon kommen als kapitalistische „Reservearmeen“ in Frage, d.h. sie können sich wenigstens zeitweise und in schmalem Umfang in den kapitalistischen Zusammenhängen Löhne verdienen. Die Mehrheit dieser Milliarden Menschen dürfte für den weltweiten Kapitalismus incl. seiner Subkapitalismen nicht einmal darauf Chancen haben, sie dürften schlicht „überflüssig“ und unter den kapitalistischen ökonomischen Kriterien einfach eine Last sein.
Wie man diese „Last“ physisch reduzieren könnte, m.a.W. wie man die Weltbevölkerung um diese paar Milliarden vermindern könnte, ist mit Sicherheit Gegenstand zahlreicher Überlegungen in kapitalistischen politischen Kreisen; einige davon dürften so wenig human sein, dass sie der Öffentlichkeit nicht oder nur verklausuliert vermittelt werden. Die Vergangenheit hat allerdings immer wieder auch theoretische und praktische Beispiele für inhumane Ansätze gezeigt.
Bspw. hat Malthus vor 200 Jahren vertreten, die Nahrungsmittelproduktion könne mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten, daher seien Kriege und Seuchen zu begrüßen, um ‚das Gleichgewicht wiederherzustellen‘. (Malthus wurde durch die tatsächliche Entwicklung widerlegt. Sie enthielt wohl gegensätzliche Faktoren wie einerseits die rasche Verbesserung und Verwissenschaftlichung der agrarischen Produktion, den kolonialen Raubbau andererseits). In den 70er Jahren flog ein geheimes Programm der USA auf, in Lateinamerika Frauen ohne deren Wissen zu sterilisieren. Die indische Diktatorin Indira Ghandi scheiterte mit einem Regierungsprogramm zur Zwangssterilisierung. Die chinesische Führung unter dem Wiedereinführer des Kapitalismus Deng Xiao-ping verordnete die „Ein-Kind-Politik“, die der Bevölkerung großes Leid und der Demografie krasse Verzerrungen (Vergreisung, Männerüberschuss) eingetragen hat – um nur die bekanntesten Beispiele anzuführen. Will man Anschauungsmaterial zu weitergehenden kapitalistischen Überlegungen, dann kann man bspw. die Welt der sog. Fantasy-Filme (vornehmlich derer aus Hollywood) heranziehen. Die Szenarien einer Erde, die nach apokalyptischen Kriegen oder Naturkatastrophen entvölkert ist und auf der Reste von Menschheit in brutalster Weise ums individuelle oder rassische Überleben kämpfen (so wie bestimmte radikalkapitalistische Ideologen den „Normalzustand“ der Gesellschaft imaginieren) finden sich dort seit Jahrzehnten zuhauf.
Es gibt zumindest ein historisches Beispiel, wie ein großes Land mit fast ausschließlicher agrarischer Wirtschaftsform und kaum entwickeltem industriellem kapitalistischen Sektor, mit einer sehr großen und rasch weiter wachsenden Bevölkerung, die nach kapitalistischen Kriterien großenteils aus ‚unproduktiven Essern‘ bestand, es geschafft hat, dieser Bevölkerung Arbeit zu verschaffen, sie zu ernähren, sozial zunehmend zu sichern und ohne Inanspruchnahme der globalen Kapitalmärkte eine eigene Industrie und einen inneren Markt hochzuziehen.
Dieses Beispiel hat China in der Zeit nach 1949 geliefert, nach Gründung der VR China, nach der revolutionären Beendigung der imperialistischen Beherrschungsversuche und der Spaltungen des Landes.
Das wichtigste Mittel war die Bildung agrarischer Genossenschaften und Kommunen, die sich zunehmend auch zu Akteuren der Industrialisierung, der Bildung und der Sozialsysteme entwickelten. Politisch wurde diese Entwicklung von Millionen von Aktivisten, namentlich solchen der früheren KPCh, vorangetrieben und von den Vorstellungen des langjährigen Hauptexponenten der Partei, Mao Zedong, inspiriert.
Es ist eine der interessantesten und für die heutige Weiterentwicklung nicht nur Chinas, sondern auch großer anderer Teile der Welt mE ausschlaggebenden Fragen, wie und warum diese Entwicklung in China nach dem Ende der Ära Mao Zedongs, d.h. etwa seit 1980, abgebrochen und stufenweise, aber relativ rasch in kapitalistische Formen unter der Führung durch eine zunehmend staatsbürokratisch sich offenbarende KPCh, in einen „Wild-West Turbokapitalismus“ überführt werden konnte (solche und ähnliche Prädikate stammen von Journalisten und Buchautoren, die man unter keinen Umständen sozialistischer Neigungen verdächtigen kann).
Damit hängt zusammen die noch politischere und aktuellere Frage, was an die Stelle treten wird, wenn dieses neueste Modell der Umwandlung einer Agrargesellschaft in eine vom globalisierten Kapitalismus beherrschte Gesellschaft (mit „Bevölkerungsüberschuss“ im kapitalistischen Sinne) in China selbst vor existentielle Herausforderungen kommt. Anderswo in der Welt hat es sich bereits als apokalyptisch, als teilweise schon gescheitert erwiesen.
Ich denke, dass erneut genossenschaftliches Denken an Bedeutung gewinnen wird, und wahrscheinlich sogar an zentraler Bedeutung.
Die chinesischen Genossenschaften zeigten sich zunächst einmal fähig, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln in die Hand zu bekommen und zu sichern. Sie bündelten die Kräfte ihrer Mitglieder zu gegenseitiger Hilfe, zu gemeinsamer Verbesserung der ländlichen Infrastrukturen, zur Steigerung der Produktion und ihrer Technisierung und Verwissenschaftlichung. Landflucht wurde so in hohem Maße verhindert und sogar in gewisser Weise überflüssig.
Selbstverständlich konnten andererseits die gravierenden Unterschiede zwischen Stadt und Land hinsichtlich individueller Entfaltungsmöglichkeiten, Kultur und Wissen nicht in zwei Jahrzehnten grundsätzlich überwunden werden.
Slums brauchten im China der Jahre zwischen 1949 und 1980 nicht zu entstehen und entstanden nicht; die Versorgung der städtischen Bevölkerungen mit Lebensmitteln war gesichert. Der ländliche Teil Chinas, d.h. der weit überwiegende Teil, entwickelte sich und bot einer wachsenden Bevölkerung elementare Lebensgrundlagen und Arbeit, wenn auch unter einer ganzen Reihe von Einschränkungen.
Diese Erfahrungen sind m.E. für heutige Gesellschaften wie in großen Teilen Afrikas, in Lateinamerika, aber auch im Vorderen Orient, in Indien und anderswo sehr der Kenntnisnahme, des Studiums und der eigenen praktischen Anknüpfung wert.
Es handelt sich um Gesellschaften, die ähnlich dem China der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitgehend in agrarischen, teilweise subsistenzartigen Formen gefangen sind, denen es an Kapital mangelt, die eine eigene Industrie und Infrastruktur nicht hinkriegen, die von korrupten Cliquen geführt werden und die ihre besten Ressourcen an Menschen, Böden und Rohstoffen billigst an das internationale Kapital verschleudern müssen. Gesellschaften, die – das muss zur Schande auch der dortigen inneren Verhältnisse in Politik und Kultur auch einmal gesagt werden – fast nur da punktuelle Stärkungen und Modernisierungen erfahren, wo dieses vom Grundsatz her räuberische internationale Kapital direkt investiert.
Welche Revolutionen durch diese großen Teile der Erde erst noch hindurchgehen müssen, welche internationalen Umwälzungen und Kriege die dortigen Verhältnisse erst noch zum Kippen bringen müssen (wie das in China seit Beginn des 20. Jahrhunderts in exemplarischer und oft extrem brutaler Weise stattgefunden hat), das wird die Zukunft zeigen. M.E. wird das genossenschaftliche Denken jedenfalls seine konstruktiven zivilisierenden Potentiale entfalten können.
Die chinesischen Erfahrungen mit dem Genossenschaftswesen sind von schweren Störungen und sogar teilweise Zerstörungen des gesamten gesellschaftlichen und ökonomischen Gefüges keineswegs frei. In den drei Jahrzehnten seit 1949 gab es solche reichlich, infolge internationaler und interner politischer Zuspitzungen (Blockade durch den „freien Westen“ seit 1949; Abbruch der Unterstützung durch die Sowjetunion um 1960; Fehlentwicklungen im Zeichen des „Großen Sprungs“ ab 1958, Durcheinander in der Kulturrevolution ab 1966) – trotzdem konnte das ländliche Genossenschaftswesen überleben und sich sogar immer wieder konsolidieren.
Die Gründe, warum es unter der Führung durch Deng Xiao-ping ab 1978 zunehmend aufgelöst werden konnte und die neuen, zunehmend turbokapitalistischen Formen von der überwiegenden Mehrheit der chinesischen Bevölkerung als Alternative, von erheblichen Teilen wohl sogar als bessere Alternative gesehen wurden und – noch – gesehen werden, sind sicher vielfältig und bedürfen wohl erst noch einer Analyse und Aufarbeitung, die vorwiegend in China selbst zu leisten wäre.
Für Beobachter aus dem weit entfernten Europa zeichnen sich vielleicht bestimmte Ansätze dazu immerhin ab.
Einer der Gründe dürfte darin zu suchen sein, dass dem Genossenschaftswesen in China nur partiell, und wohl regional unterschiedlich, überzeugende Erfolge gelungen sind. Nach einer Einschätzung des US-amerikanischen China-Experten und Agrarexperten W. Hinton war etwa ein Drittel der ländlichen Genossenschaften Chinas erfolgreich, ein Drittel war soso-lala, und ein Drittel waren Fehlschläge. Manches deutet darauf hin, dass sie in Regionen relativ erfolgreich waren, in denen in den Jahrzehnten zuvor es bereits agrarrevolutionäre Aufstände der Landbevölkerung und Guerilla-Kriegsaktivitäten gegen die japanische Besatzung gegeben hatte, m.a.W. revolutionäre Erfahrungen der Bevölkerung.
Tiefergehende Gründe müssen wohl in bestimmten langfristigen Merkmalen der chinesischen Kultur und Gesellschaft gesucht werden. Manche Autoren betonen, dass es zwar bestimmte typisch chinesische Arten von Vergesellschaftung gebe – die eine verkörpert im System der Sippenclans und des entsprechenden Ahnenkults (ideologisch ausgeformt im Konfuzianismus), die andere im Zwang durch das seit mehr als 2 Jahrtausenden etablierte System kaiserlicher Zentralbürokratie-, dass aber am Grunde der Gesellschaft sich ein bis zum Asozialen gehender Individualismus und Gewinn-Egoismus etabliert habe, der heute für einen entsprechenden Kapitalismus neuester dominanter Ausformung einen günstigen Nährboden bilde.
Ich muss an dieser Stelle vermerken, dass die extreme Asozialität heute vor allem vom US-Imperialismus, der bisherigen Zentralinstanz des globalisierten Kapitalismus, vorgelebt wurde und wird.
Insofern habe Deng Xiao-ping an tiefsitzende gesellschaftliche Grundcharaktere in der chinesischen Gesellschaft anknüpfen können, als er das Genossenschaftswesen auflöste und an elementare egoistische Bereicherungstriebe appellierte.
Ich nehme an, dass im heutigen China bedeutende Ansätze existieren, die eigene Geschichte, die eigene kulturelle Prägung, die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung kritisch zu reflektieren, und selbstverständlich die westlichen Gegenbilder gleichfalls. Aufgrund der historischen Erfahrungen vor allem des 20. Jahrhunderts und der neuen Zuspitzungen der letzten Jahre muss sich in China ein Boden für weiterführende Kritik und Bildung neuer Ideen bilden. Der aktuelle Turbokapitalismus, vielleicht der Kapitalismus überhaupt, werden von verschiedenen Grundpositionen her kritisch hinterfragt. Es gibt Liberale, Sozialdemokraten, „Marxisten“, „Maoisten“ usf., und wahrscheinlich neue Ideen und Synthesen, auf deren Bekundungen in der Zukunft man sehr gespannt sein darf. Der neue chinesische kapitalistische Imperialismus des Xi Jinping und anderer dürfte keineswegs das letzte Wort sein.
Ein bedeutendes internationales Feld der Erprobung genossenschaftlicher, zunächst vorwiegend agrarischer Modelle dürfte in den kommenden Jahrzehnten in Afrika entstehen. Der Kontinent hat eine riesige Bevölkerung, die weder von der bisherigen – weitgreifend noch dominierenden – Subsistenzwirtschaft noch von dem zupackenden Agrarkapitalismus westlicher oder chinesischer Abkunft, noch von einer durchgreifenden Industrialisierung (die so dort überhaupt nicht möglich ist) noch von der Massenemigration leben kann. Andererseits ist er an günstigen Naturbedingungen für die Landwirtschaft sowie auch an Bodenschätzen etc. immens reich. Die Kombination von sozialem Zusammenhalt und produktiver Kooperation einerseits mit kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Grundelementen andererseits, wie sie in der Genossenschaft exemplarisch sich verwirklichen lässt, könnte für Afrika Chancen eröffnen. Dazu bedarf es allerdings auch politischer Umwälzungen.
Ähnliches lässt sich wohl auch von anderen Gebieten wie großen Teilen Lateinamerikas, Indiens etc. sagen.
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Meine Ansichten über die chinesische kapitalistische Entwicklung, über die Rolle Mao Zedongs und der Kulturrevolution habe ich v.a. hier und hier und hier dargelegt.
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