Harald Welzer optimiert die Idylle – Notizen zu “Alles könnte anders sein”

Bemerkungen zur Harald Welzers Buch „Alles könnte anders sein“ „Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“. (S. Fischer Ffm., 2019)

Welzer erfreut den Leser mit kritischen Bemerkungen zu vielen Fehlentwicklungen und Absurditäten heutiger kapitalistischer Gesellschaften, an die er praktische Vorschläge anschließt, wie man es mit zumutbaren Portionen von Engagement für die Natur und das menschliche Zusammenleben in unserem heutigen Deutschland oder Europa besser machen könnte. Das ist wortgewandt, witzig und oft sympathisch. Er karikiert immer wieder treffend die zunehmende Unterordnung des individuellen und sozialen Lebens unter die Warenlogik des Kapitalismus, die abnehmende Fähigkeit so mancher Menschen, ihre Lebensaktivität anders als in entfremdeter Arbeit und ebenso entfremdetem Konsum irgendwelcher vom Kapitalismus angebotener individualistischer Glückshäppchen zu entwickeln.

Weniger einleuchtend, befremdlicher, ja von Grund auf durcheinandergeraten wirken Abschnitte über tiefergehende Fragen, denen Welzer nicht völlig auszuweichen sich erlaubt, z.B. zur Geschichte der Menschheit, zur Frage der Weiterentwicklung der Zivilisation, zum heutigen globalen Kapitalismus, zum Gegensatz zwischen arm und reich im Weltmaßstab, zu den internationalen Gegensätze zwischen den führenden Mächten. Welzer ist jedoch solchen Fragestellungen nicht gewachsen. Sein rascher Witz, sein praktischer Sinn reichen nicht in diese Dimensionen.

Wie behandelt Welzer bspw. die Frage arm-reich auf globaler Ebene? Er konstatiert zunächst eine „im Lauf der Menschheitsgeschichte“ verbesserte materielle Basis für „relativ immer mehr Menschen“, die es ihnen ermöglicht, „über die schiere Überlebenssicherung hinaus andere Bedürfnisse.. entstehen“ zu lassen, m.a.W. Zivilisation, Kultur, Freiheit in der aktiven Gestaltung des Zusammenlebens zu entwickeln. „Allerdings ist die schiere Not des Überlebens für viele Menschen immer noch nicht abgeschafft, in absoluter Zahl: Für etwa eine Milliarde Bewohnerinnen und Bewohner der Erde ist Lebenssicherheit  nicht gegeben. Damit wäre man bei einer minimalen Voraussetzung für das Gelingen einer nächsten Moderne: Sie muss danach streben, ein menschenwürdiges Leben für alle zu gewährleisten.“  (99/100) [i]

Man muss Welzer fraglos zustimmen, wenn er schreibt:

„Hier stehen ganz offensichtlich Bedürfnisse der einen gegen Bedürfnisse der anderen, und die Überlebensbedürfnisse der einen scheinen die Komfortbedürfnisse der anderen zu bedrohen. Das reicht schon für die Aktivierung von Gegenmenschlichkeit.“ (105)

Ich unterstelle zu Welzers Gunsten, dass er hier der Tatsache nicht ausweichen will, dass in den armen Ländern große Teile der schweren Arbeit gemacht werden, der große Schichten in den reichen Ländern ihren relativen Komfort verdanken. „Gegenmenschlichkeit“ ist sein Ausdruck für die fundamentale Inhumanität dieser kapitalistischen globalen „Ordnung“.

Im Angesicht und trotz  dieser Feststellung entlässt Welzer den Leser jedoch anschließend in ein Reich vagster Konzepte wie einer „Selbst-Deprivilegierung der reichen Länder“ (100) und einer Schaffung global durchzusetzenden Umwelt-, Eigentums- und Steuerrechts, allgemeiner noch: eines globalen „zwischenstaatlichen Gewaltmonopols“ (131), das Krieg als Mittel internationaler Politik ausschließen würde.

„..ein gutes Leben für alle im Sinne einer universellen Durchsetzung der Menschenrechte kann ohne zwischenstaatliche Gewaltregulierung gar nicht gedacht werden. Das Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt der Moderne erfordert also eine Ausweitung der Perspektive auf das internationale Recht und insbesondere auf die Schaffung international handlungsfähiger Institutionen, die solche Recht auch durchsetzen können.“ (132)

Mit anderen Worten: Welzer hat keine Ahnung von den internationalen machtpolitischen Realitäten. Das deutet sich schon an, wenn er bestimmte existierende internationale Institutionen anführt als vermeintliche Vorstufen der in seiner Sicht anzustrebenden, viel stärkeren internationalen politischen Integration, „das Kriegsrecht, das Völkerrecht, den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag“ (131). Diese Rechtssysteme sind, wenn man sie  als erste Bausteine internationaler Gleichberechtigung von arm und reich, von stark und schwach anführen wollte, wie Welzer das hier tut, historische Fehlschläge. Sie sind praktisch Null, wenn irgendwelche Interessen von Großmächten wie den USA mit ihnen kollidieren, fungieren aber für naive Leute in reichen Ländern anscheinend als Gewissens-Sedativa.

Wie die Entwicklung der EU zeigt (die von Welzer als Beispiel gern angeführt wird), ist die Entwicklung internationaler Rechtssysteme und ihre Durchsetzung, die Schaffung relativ starker supranationaler Regierungsmacht tatsächlich möglich – in Teilbereichen des Globus, und als Gegenwehr gegen Vergewaltigung durch Größere. Aber wie soll man sich vorstellen können, dass bspw. China und die USA in ihrem konkurrierenden Streben, sich den Reichtum der Welt für ihre Milliardärsschichten und für die Dämpfung ihrer inneren gesellschaftlichen Widersprüche zu erschließen, gegenseitig und auf Dauer der Gewalt entsagen? Dass in den Beziehungen zu armen Ländern, Lieferanten billigster Arbeitskraft und geraubter Rohstoffe, reiche kapitalistische Länder sich Schiedsverfahren (vor wem?) unterziehen, „Selbst-Deprivilegierung“ durchführen und künftig ihren Reichtum auf die armen Regionen, sagen wir z.B. Indonesien oder Afrika, umverteilen, so dass diese nach und nach gleichziehen würden?

Diese billige, abgelutschte, illusionäre Art von Internationalismus oder Weltregierung, wie sie Welzer hier einmal mehr zu offerieren sich nicht schämt, ist nichts weiter als Ausweichen, Drumherumreden. Er erkennt verbal an, dass es letztlich keine humane Gesellschaft geben kann, wenn die globale Ausbeutung der Schwächeren und die Gewalt gegen sie  weiterhin zu den Grundlagen von relativer Zivilisiertheit und Wohlstand in einigen starken Ländern  gehören, verwendet aber keinen einzigen tiefergehenden Gedanken darauf, wie man Schritte aus diesem Grunddilemma von Zivilisiertheit und Moderne heraus konzipieren könnte. (Dass außerdem die Starken untereinander rivalisieren und weiterhin die großen Kriege zwischen ihnen drohen, blendet Welzer sogar komplett aus.)

Anständig wäre die Anerkenntnis, diese Schritte noch nicht zu kennen, aber tiefer an den Problemen arbeiten zu wollen. Unanständig ist die Fantasie, irgendwie könnten schon die internationalen übergeordneten Institutionen zustande kommen, die dann die Dinge regeln und den Naturschützer oder Ehrenamtler eines reichen Landes wie Deutschland von seinem schlechten Gewissen hinsichtlich internationaler Verhältnisse befreien. Ich spreche mich wohlgemerkt keineswegs gegen Naturschutz und soziales Engagement in einem reichen Land wie Deutschland aus, wohl aber gegen die eigensüchtige Verengung des Problembewusstseins, wie sie Welzer hier selbst repräsentiert. Für Naturschutz und soziale Verbesserungen engagieren sich viele Mitbürger in der Tat auch international, bspw. in Afrika, und ich habe großen Respekt für ihren Einsatz. Das Wichtigste aber wäre, mehr politisches Bewusstsein für die realen Machtverhältnisse und Interessengegensätze auf der globalen Ebene zu entwickeln, und dafür gibt Welzer ein leider deutliches Gegenbeispiel.

Typisch übrigens für die Tendenz, bei der Erörterung der problematischen Beziehungen der reichen zu den armen Ländern die fundamentalste Frage an den Rand zu schieben, nämlich die nach den Arbeitslöhnen dort, sind solche Passagen wie die ab S. 229 über „Internalisierung“ der – kapitalistischen  – Kosten. Die Umweltschäden der globalisierten Produktion in den schwachen Ländern finden hier sehr viel Beachtung, die sozialen Schäden durch die Extremausbeutung der Arbeitskräfte kaum. Zwar darf S. 237 auch einmal die Vision angedeutet werden (in einer Studie, die Welzer nicht selbst verfasst hat), dass die „globale proletarische Reservearmee“ eines Tages nicht länger ‚missbraucht‘ werde; aber wie man dahin kommen könnte, bleibt unerörtert. (Übrigens ist der Ausdruck „Reservearmee“ theoretisch falsch. Die Proletarier Chinas und anderer Länder der früheren kolonialen Welt sind für das globale Kapital heute unersetzliche Hauptkontingente der globalen Arbeit.)

Es gibt mehrere weitere Felder, auf denen Welzer wohlmeinend daherkommende, aber unverbindliche und sozialtheoretisch bodenlose Erörterungen versucht, bspw. mit seiner Forderung einer völlig uneingeschränkten internationalen Migration oder nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE).

Zur Frage der Migration:

Die uneingeschränkte Migration setzt das Prinzip des Nationalstaats mit seinen definierten und zu verteidigenden Grenzen außer Kraft. Das gibt Welzer teilweise zu; es sei aber nix Schlimmes, denn der Nationalstaat mit seinen Grenzen sei sowieso ein geschichtlich ziemlich neues und heute bereits veraltetes Konstrukt. Hier kann man u.a. folgenden Unsinn lesen: „…Kriege beginnen in der Regel durch Grenzverletzungen, also den Angriff auf eine behauptete territoriale Integrität am Boden oder in der Luft. Sie schützen nicht, sie gefährden.“ (149) ‚Grenzen weg, dann können die meisten Kriege erst gar nicht mehr anfangen‘ – danke für diesen erleuchteten Beitrag zum Pazifismus, Herr Welzer !

Der Nationalstaat ist sicher nicht das letzte Wort in der Geschichte der menschlichen Vergesellschaftung; und dass in der jüngeren Vergangenheit so viel mehr Menschen lernen, nationalen Chauvinismus zu verachten, mit den Menschen anderer Nationalitäten, ohne Vorurteile und ohne Vorrechte zu beanspruchen, in Austausch zu treten und internationale kulturelle und politische Gemeinsamkeiten zu entwickeln, ist zweifellos ein großer historischer Fortschritt. Gleichwohl bedeutet Nationalstaat in den meisten Fällen noch immer nicht nur veraltete Barriere, sondern auch ein gewisses Maß an Demokratie, an Mitwirkungspflichten und an Garantien von Mitwirkungsrechten und sozialen Rechten für die Bürger eines Nationalstaates. Diese Charakterzüge haben sich in Europa über viele Jahrhunderte im Zusammenhang mit der Bildung von Nationalstaaten, nationalen Gesellschaften mit ihren je eigenen Prägungen und ihren Grenzen entwickelt. Wenn Welzer den Nationalstaat als verzichtbare historische Eintagsfliege porträtiert, zeugt das von historischer Unbildung und Verantwortungslosigkeit.

Welzer fordert die bedingungslose Migration und erklärt, die Migranten bräuchten nicht die Nationalität der aufnehmenden Nation anzunehmen, sondern könnten arbeiten, wo immer sie wollten, Geld in ihre Heimat überweisen und dann irgendwann wieder gehen. Faktisch fordert er damit ein massenweises Nebeneinander in der Bevölkerung von Menschen mit politischen Rechten und Pflichten und solchen ohne dieselben. Wie dergleichen ohne massive Ausbeutung der Rechtlosigkeit der Migranten bspw. durch Arbeitgeber laufen soll, wie andererseits auch vermieden werden soll, dass Massen von Menschen in Ländern zeitweilig leben, die sie nicht kennen, nicht kennen zu lernen brauchen (abgesehen von ihren direkten Arbeitsverhältnissen) und an deren Entwicklung sie keinen verantwortlichen Anteil nehmen, darauf verwendet Welzer keinen Gedanken.

„Denn mit der Teilnahme am Arbeitsmarkt sind ja nicht automatisch staatsbürgerliche Rechte und Pflichten verbunden“, vermerkt er ausdrücklich S. 204. Von hier ist es nicht mehr weit zu der radikalen neoliberalen Forderung, dass nicht nur das Kapital weltweit ungehinderte Freizügigkeit genießen, sondern auch die Arbeitskraft nach Kapitalsbedürfnissen international in großem Stil verschiebbar gemacht werden müsse.

Welzer bemerkt zurecht, dass ein erheblicher Teil der Bürger reicher Länder seinerseits das Recht fordere und praktiziere, sich ohne fundamentale politische und soziale Verpflichtungen in jedes andere Land begeben zu können, als Touristen, als Studenten; oder auch, was er nicht erwähnt, als Kapitalisten, die in anderen Ländern Geschäfte machen, Niederlassungen gründen etc. (wofür immerhin im Allgemeinen die Anerkennung der betr. nationalen Gesetze erforderlich ist). Daraus  kann man aber so etwas wie ein – vermeintliches – Spiegelbild nicht ableiten: dass eben die Menschen aus ärmeren Ländern gleichermaßen überall hin wandern können dürften. Die negativen Folgen für die politischen und sozialen Verhältnisse in den Zielländern, und zwar für diejenigen Strukturen, die die Arbeitskraft noch einigermaßen schützen und die Bildung von gleichgültigen oder sogar feindlichen Subkulturen verhindern sollen, habe ich bereits angedeutet. Die Folgen für die Länder, aus denen die Migranten kommen, bedenkt Welzer gar mit keinem Wort. Diese Länder verlieren bei uneingeschränkter internationaler Mobilität einen Großteil ihrer energischen Jugend und ihrer wenigen Fachkräfte. Das Geld aus den Rücküberweisungen kann solche Verluste nicht ersetzen, diese Länder werden in ihrer eigenen Entwicklung geschädigt und das ausbeuterische Verhältnis reich/arm wird auf diese Weise verstärkt.

Gleichwohl ist mE zu fordern, dass viele Menschen aus armen Ländern in die reichen kommen können, nicht nur umgekehrt, und nicht nur um eine Zeit lang den Arbeitsmarkt im Sinne der Kapitalisten zu verbessern, sondern auch um zu studieren, sich auszubilden, Mischehen o.ä. einzugehen und eventuell auch auf Dauer zu bleiben. Aber diese Migration muss auf Grundlage von Ausgleich der Interessen zwischen den Staaten geregelt werden. Politische und kulturelle Rechte und  Pflichten der Migranten sind zu etablieren, und mehr noch: substantielle Mitwirkung reicher Länder an der echten Entwicklung der Länder, aus denen die Migranten massenweise kommen, muss etabliert werden.

So weit nur ein paar ganz knappe Bemerkungen aus meiner Sicht zu diesem höchst schwierigen Feld.

 

Zum Bedingungslosen Grundeinkommen

Mit dem BGE begibt sich Welzer auf ein ganz glitschiges Terrain. In der Essenz fordert er einen Teilkommunismus auf der Grundlage eines globalen Kapitalismus.

Wenn allen Bürgern eines Staates aus der relativ kleine Riege reicher Länder wie Deutschland von ihrem Staat ein existenzsicherndes Grundgehalt garantiert wird ohne irgendeine Beziehung dazu, ob sie überhaupt arbeiten und ob ihre eventuelle Tätigkeit gesellschaftlichen Nutzen oder Wert besitzt, werden grundlegende Zusammenhänge zerrissen.

Bislang ist Geld eine Kategorie der Arbeitsteilung in der Warengesellschaft. Es repräsentiert, wie unvollkommen auch immer, die Fülle an Waren und Dienstleistungen etc., die in gesellschaftlicher Arbeit entstehen, und ermöglicht aufgrund der Teilnahme an dieser gesellschaftlichen Arbeit den Individuen eine gewisse Teilhabe an den Resultaten, vornehmlich in Form von Löhnen und Konsum. Dass diese Teilhabe höchst ungleich und vielfach höchst ungerecht ausfällt, wissen alle, aber es gibt noch kein praktikables Gegenmodell.

Kommunismus wurde, bspw. von Marx und Engels, vorgestellt als eine Gesellschaft, in der die Produktivkräfte viel höher als heute entwickelt sind, in der die Bürger ohne Zwang, intrinsisch motiviert, an der gesellschaftlich notwendigen Produktion mitwirken und, indem diese mit einem relativ geringen Teil der gesellschaftlichen Kreativität schon garantiert ist,  darüber hinaus große Freiräume für individuelle Entfaltung und auch die Weiterentwicklung aller haben. Hier fragt niemand mehr nach Messung des individuellen Beitrags zur gesellschaftlichen Produktion, der so etwas wie Lohn begründen würde, sondern jede/r nimmt sich aus der produzierten Fülle, was und so viel sie/er braucht.

Die heutige kapitalistische Gesellschaft beharrt insgesamt geradezu fanatisch auf der minutiösen und oft zerstörerisch kargen Zumessung von Geldlöhnen zu geleisteter Arbeit, sichtbar am direktesten an den Milliarden von Proletariern und sonstigen Besitzlosen v.a. in den armen Ländern,  erlaubt aber andererseits gewissen oberen Schichten, sich aus dem maßgeblich von diesen Massen mitgeschaffenen gesellschaftlichen Reichtum fast grenzenlos zu bedienen, ohne proportional etwas gegeben zu haben, oder sogar  ohne der Gesellschaft auch nur irgendetwas Nützliches beisteuern zu müssen. Das ist der Kommunismus der Milliardäre – oder wie soll man das nennen? Wenn jetzt mit dem BGE, in anscheinend sozial hilfreicher Absicht, eine ähnliche radikale Trennung von gesellschaftlicher Funktion und Einkommen eingeführt werden soll, allerdings  auf unterster Wohlstandsebene, dann stellt sich umso mehr die Frage, was eigentlich Geld ist, woher es kommt und was es gesellschaftlich bewirken soll.

Wenn das BGE in einigen reichen Ländern eingeführt würde, wie würde das wohl bei der großen Mehrheit der globalen Menschheit ankommen, die sich täglich krumm und krank arbeitet, um ein Minimum an Geld herauszubekommen, und mit dieser Arbeit nicht nur ihre nationalen Oberschichten, sondern das internationale (Finanz)-kapital fett machen? So fett, dass es vielleicht sogar die paar hundert Milliarden im Jahr locker machen könnte, die an diejenigen BGE-ler in den Metropolen gehen müssten, die sich nach Lust und Laune aus der gesellschaftlichen Arbeit verabschieden würden?

Damit sich einzulassen liegt Welzer anscheinend fern. Er äußert sich zwar kurz zu der Frage, wie ein Staat wie Deutschland das BGE finanzieren könnte – aus der Liquidierung der gigantischen Sozialbürokratie, die sich mit Hartz IV etc. befasst und durch das BGE überflüssig würde, meint er – , aber tiefer geht das bei ihm nicht.

 

Unabhängig von Welzers Vorstellungen kann man sagen: der Widerspruch zwischen der ständig weiter penetrierenden kapitalistischen Geldlogik einerseits (immer mehr menschliche Lebenskraft in Tätigkeiten zu kanalisieren, die für die Kapitalverwertung nützlich sind, d.h. in kapitalistische Produktion, Verwaltung des kapitalistisch produzierten Reichtums und kapitalistischen Konsum)  und der gesellschaftlichen Notwendigkeit andererseits, die Bereiche dieser Geldlogik zu reduzieren und zu zivilisieren, um mehr Freiheit für die Entwicklungen der Individuen und der Gesellschaften zu gewinnen, wird immer heftiger.

Dem würde Welzer wohl zustimmen; solche Erkenntnisse sind ja auch nicht ganz neu und nicht auf seinem Mist gewachsen. Aber wie passt seine Forderung des BGE nun theoretisch und sozialtechnisch dazu?

Schlecht, denn die Quellen der Geldmittel, die ein Staat für das flächendeckende BGE nach Welzerschem Konzept aufbringen müsste, müssten ja leider, meine ich, zunehmend noch prekärer und moralisch fragwürdiger werden. Wenn nämlich  in der dem jeweiligen Staat zugrundeliegenden Ökonomie die Steuern und Abgaben schrumpfen würden, weil immer mehr Bürger aus den geldgebundenen und geldgenerierenden Tätigkeiten ausscheren, um sich ‚Sinnvollerem‘ zu widmen, müsste dieser Staat das Geld, mit dem er diese Umorientierung finanzieren soll, woandersher zu kriegen versuchen. Ihre bisherigen Aktivitäten, die für den Staat Steuern und Abgaben generiert hatten, sind nunmehr weggefallen und der Staatshaushalt ist noch prekärer geworden. Welzer meint zwar leichthin, das Geld würde wohl frei, indem die Kosten für die bisherige Sozialbürokratie wegfielen, aber das ist keine grundsätzlich saubere und wohl auch keine praktisch tragfähige Antwort.

Wie bereits erwähnt, haben die Staaten der reichen Länder längst schon nicht mehr genug Einnahmen aus den Aktivitäten ihrer eigenen Bürger, um ihre umfangreichen Sozialhaushalte zu finanzieren, sondern sie sind längst auf eine ins Monströse gewachsene, zum großen Teil internationale Kreditaufnahme angewiesen. Anders ausgedrückt, die Sozialhaushalte der reichen Länder werden längst schon zu erheblichen Teilen finanziert aus den Massen des internationalen Finanzkapitals, die man zu erheblichen Teilen als Schweinegelder einstufen muss, aus solchen Kapitalmassen, die rings um den Globus flottieren und nicht ohne Grund zu erheblichen Teilen auf irgendwelchen Cayman-Inseln, Bermudas, Panamas, Guernseys oder der Londoner City verbucht sind. Daher wird die Frage unausweichlich: wenn ein hochverschuldeter Staat wie z.B. Deutschland seinen Bürgern ein BGE finanzieren will (bspw. etwa 60 Mio. volljährigen Bürgern jährlich 14.400 € pro Nase, insgesamt also 864.000.000.000 € oder anders ausgedrückt  864 Milliarden €), woher soll das Geld kommen wenn nicht aus einer erheblichen Ausweitung der Verschuldung?

Wenn das BGE jedoch nicht aus weiterer staatlicher Schuldenaufnahme finanziert werden darf – was Welzer bestimmt auch so sieht – , wenn andererseits der staatliche finanzielle Spielraum, der sich von A-Z aus der Geldlogik der kapitalistischen Arbeit speist, durch deren Zurückdrängen reduziert wird, sind größere Ideen gefragt als das nette Kleinklein bei W.

Vereinfacht gesagt, liefe die Idee des BGE, so wie W. sie im Zusammenhang seiner übrigen kapitalismuskritischen Vorschläge präsentiert, in der Praxis darauf hinaus, dass ein Mehr an internationaler Geldlogik erforderlich wäre, um in bestimmten Bereichen ein Weniger zu finanzieren. Anders ausgedrückt: ein bisschen Kommunismus für einen kleinen Ausschnitt der Weltgesellschaft wird finanziert durch noch mehr Kapitalismus im Gesamtsystem.

In der Tat ermöglicht die globale Ausbeutung – jedenfalls die nach dem bisherigen Schema eines einheitlichen kapitalistischen Weltsystems unter Führung einer einzigen Supermacht – bestimmten privilegierten Schichten einen derartigen finanziellen Spielraum, dass sie in ihrer persönlichen Lebensführung sich um den Zusammenhang zwischen eigener Leistung bzw. Nichtleistung und persönlichem Einkommen wenige bis gar keine Gedanken mehr machen müssten. Bestimmte Schichten können einen Quasi-Kommunismus der höheren Stufe  (jedem nach seinen Bedürfnissen) erreichen. Das BGE wäre dann eine quasi-egalitäre, quasi-berechtigte Forderung, dass auch untere Schichten von Leistungspflichten entlastet würden, jedoch wirft diese „Lösung“ erst recht die Frage auf, welche noch größeren  kapitalistischen Strukturen wir uns eigentlich erlauben wollen…..

 

Es ist wahrscheinlich sogar für die Menschheitsentwicklung günstiger, wenn das Konzept des globalisierten Kapitalismus unter US-Führung auf den Müllhaufen kommt. Sowieso lässt es sich auf keinen Fall aufrechterhalten, weil zu viele zu starke andere Kräfte damit nicht leben können und wollen, nämlich an erster Stelle China. Die Erträge der globalen Ausbeutung, deren Löwenanteile bisher klar dem westlichen Block zuflossen, werden von anderen beansprucht. Sie wollen einen Teil, in der Perspektive den Löwenanteil  für sich. Die finanziellen Spielräume des westlichen Noch-Blocks schrumpfen; hinzu kommt, dass ein erheblicher Teil derselben künftig für die Rivalität, für das Militär etc., wahrscheinlich im Weiteren für Kriege reserviert werden muss. Die Unzufriedenheit mit einer derartigen Entwicklung führt u.a. auch zu einer stärkeren Instabilität des westlichen Blocks, die EU muss sich teilweise daraus absetzen und dafür sorgen, dass sie nicht das Opfer wird. Die Sozialpolitik kommt immer mehr unter den Druck solcher internationaler Zuspitzungen und kann nicht ohne deren Berücksichtigung neu konzipiert werden.

 

So weit ein kleiner Anriss von Problemen, die unweigerlich bei der Erörterung von Konzepten wie des BGE zutage kommen; es gibt noch viel mehr.

 

Was ich hier und andernorts an Welzer kritisieren muss: dass er viel Nettes, auch gutplaziertes Satirisches hervorsprudeln kann, aber regelmäßig tiefergehenden Fragen ausweicht. Er plaudert wie ein Entertainer, der zu fast allen aktuellen Streitfragen schnell etwas Witziges oder Erbauliches sagen kann, um dann rasch das Thema zu wechseln. Seine Vorschläge laufen auf eine – sicher gut gemeinte –  Optimierung der Idylle eines reichen Landes hinaus, in der niemand so recht die Fragen aufkommen lassen will, auf welcher tief zerrissenen und katastrophenträchtigen globalen Wirklichkeit die derzeitige eigene Wohlhäbigkeit balanciert. Das analytische Niveau Welzers ist dramatisch unzureichend für die Zukunft.

 

[i] Die Zahl „ eine Milliarde“ ist mE zu niedrig. Ihr entsprechend müsste man unterstellen, dass die übrigen ca. 6.5 Mrd. Menschen auf der Erde bereits „Lebenssicherheit“ erreicht hätten. Aber selbst in den reichen Ländern gibt es relevante Anteile an der Bevölkerung, für die der Ausdruck ziemlich unpassend wäre, und mit dem Blick auf Länder wie Indien, die nach offizieller Statistik nicht zu den ganz armen zählen, muss man leider feststellen, dass „Lebenssicherheit“ bestimmt für die Mehrheit nicht gegeben ist. Dort ist die Mehrheit ja nicht einmal richtig ernährt!  „Lebenssicherheit“ ist selbst für erhebliche Teile der reicheren Bevölkerungsschichten in reichen Ländern keine passende Kategorie, weil auch deren derzeitige relative Absicherung größeren ökonomischen Krisen oder gar Kriegen, in die auch diese Länder verwickelt werden können, nicht Stand halten wird.

 


 

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Ich verspreche jede sachlich irgendwie relevante Zuschrift dann im Anhang zu dem betr. Beitrag zu veröffentlichen, auch wenn sie mit meinen Ansichten garnicht übereinstimmen kann.

 

 

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