Wer ist Angela Merkel?

In einem Artikel der „Cicero“ wurde kürzlich die Meinung vertreten, die erste ernsthafte Herausforderung der Kanzlerschaft Angela Merkels überhaupt sei vor kurzem durch die Ministerin Ursula von der Leyen anläßlich der Auseinandersetzungen um die Frauenquote in Unternehmen erfolgt.

„Bei von der Leyen werden Merkels Waffen stumpf“, schrieb Gertrud Höhler am 6. Mai 2013. Die Autorin hat sich schon mehrfach als Kritikerin von Angela Merkel versucht.

Die Frage, wieso die Politikerin Merkel sich derart lange halten konnte und ob nunmehr ein Ende ihres Mandats absehbar wird, ist in der Tat interessant. Ich habe ihre Politik in mehreren früheren Blogbeiträgen als ernstlich ruinös für dieses Land kritisiert

Allerdings sind es bei Frau Höhler ganz andere Maßstäbe der Kritik an Angela Merkel als bei mir, und ich fände es bedauerlich, wenn solche – in Details mitunter treffende, im Grundsätzlichen aber völlig unzureichende – Analysen in der Öffentlichkeit sozusagen als das letzte Wort der Merkel-Kritik stehenblieben. Da muß noch mehr kommen.

Ich reproduziere versuchsweise einige Passagen aus Höhlers Artikel und versehe sie mit kritischen Anmerkungen, die großenteils ziemlich weit ausholen und, trotz vieler Vereinfachungen und Beschränkung auf einige Punkte, manchem etwas sehr ausführlich erscheinen mögen. Leider geht es wohl nicht anders.

Höhler:

„Mit von der Leyen kommt ein neuer Modus der Macht

Mit Ursula von der Leyen kehrt die Ideologie zurück in die Regierungspolitik. Angela Merkel steht vor einer Machtprobe

Angela und Ursula. Mutti und Röschen. War da nicht noch was? Oh ja, da war noch was. Wenn bis zuletzt der Lorbeer hin- und hergereicht wird, weil beide einen Sieg und beide eine Niederlage eingefahren haben – die niemand so unerschrocken bilanziert wie es dieser Fight der Königinnen verdient, dann haben wir zu früh weggeschaut.“

Frau Höhlers Pose der „unerschrockenen Bilanziererin“ muß selbst hinterfragt werden. Von  einer Analyse gesellschaftlicher Grundfragen ist jedenfalls nichts zu spüren, dazu mehr unten.

Höhler:

 „Was hier gezeigt wurde, war eine Erstaufführung in Merkels Theater. Ein Unikat verblüffte uns, für das keine Beispiel aus der Machtgeschichte der Kanzlerin passte: Nicht Guttenberg, nicht Röttgen, nicht Wulff waren die Präzedenzfälle; es gab einfach keinen. Was hier mit verdeckten Karten lief, war die erste todernste Machtprobe am Hofe Merkel. Und die konnte nur stattfinden mit einer Frau.

Das verdeckte Thema ist Merkels Alleinstellungsmerkmal: Die Frage „Wer kann Kanzler“ lautet seit Jahren exakt: „Wer kann Merkel?“

Die Antwort: Merkel kann keiner. Ihre Unverwundbarkeit speist sich aus einer Quelle, die alle anderen Parteien nicht haben. Die Politaufsteigerin par excellence ist ideologieimmun. Da kann keiner mithalten. Nicht die SPD, nicht Grün, nicht Rot, nicht die Liberalen. Sie alle sind mit Bekenntnissen unterwegs, die ihren Spielraum begrenzen – und sie verwundbar machen. Merkel wildert bei ihnen allen; sie ist frei. Daraus folgt auch, was selten bedacht wird: Merkel macht niemanden zum Dieb; sie lebt im Ideenleasing.“

Ist Angela Merkel „Ideologie-immun“?

„Ideologie-immun“?  In meinen Augen ist es ein Hauptmerkmal der Merkelschen Politik, die offene Konfrontation zu vermeiden. Grundsätzlich versucht sie immer alle diejenigen, die sie als wichtige Kräfte in einem Konflikt ansieht, einzubinden, ihnen etwas zu geben, sie ruhigzustellen, damit keine öffentlichen Kämpfe aufbrechen, die das vorhandene System  erschüttern könnten. Es ist ein System im Weg nach unten.

Merkel appelliert an alle Teilnehmer eines Konflikts, sich der Gesamthaftung für das System zu beugen. Dieser Appell dürfte auch eines ihrer entscheidenden Machtmittel sein, er wirkt derzeit noch immer.

Merkel regiert im Grunde schon immer mit einer permanenten Großen Koalition aller Parteien.

Ist so etwas „Ideologie-immun“? Was für ein Begriffssalat. Die Merkelsche Politik ist durchaus Ausdruck einer bestimmten Ideologie. Die Ideologie von Angela Merkel ist die Sorge um das vorhandene System, die Angst, es könnte erneut in Frage gestellt werden. „Ideologie“ ist sie nicht im Sinne einer bestimmten, eher irrationalen Voreingenommenheit, sondern als mentale Widerspiegelung bestimmter Lebens- und Selbstbehauptungsweisen, die in der Praxis irgendwie funktionieren.

Der Ausdruck „Ideenleasing“ ist allerdings ganz hübsch. Wenn man es versteht, sowohl die Deutsche Bank und die Allianz ebenso wie die Gewerkschaften, die Spitzen von CDU, CSU, SPD etc. ebenso wie die Energiekonzerne und die Ökos alle irgendwie noch einmal und noch einmal zufrieden oder wenigstens ruhig zu stellen und jede Antwort auf prinzipielle Fragen zu vermeiden, wird das meist begleitet sein von verbalen Anleihen bzw. sogar teilweiser Assimiliation bestimmter Ideen der solchermaßen Eingebundenen.

Woher kommt Merkels Grundeinstellung? Aus dem individuellen Werdegang wie auch aus der politischen Wirklichkeit der BRD incl. angeschlossener Ex-DDR kann man wohl bestimmte Elemente ableiten, bzw. man kann sie dort präexistent sehen, z.B. die Duckmäuser- und Versöhnungsideologie des lutherischen Pfarrhauses; die bürokratische Verregelung aller Widersprüche, wie es sowohl dem BRD-System (wenigstens seit Ende der 80er Jahre) wie auch der DDR-Bürokratie (zumindest in ihrer Endphase) entsprach, und das Prinzip die Kontrahenten ausgestattet mit Schweigegeldern in die Kulisse zu verweisen, statt es auf eine öffentliche, demokratisch nachkontrollierbare Auseinandersetzung ankommen zu lassen.

Aber in diesen quasi häuslichen Bedingungen liegen nicht die entscheidenden Wurzeln.

 

Merkel und das internationale kapitalistische System

Den wichtigsten, aktuell wirkungsmächtigsten gesellschaftlichen Hintergrund sehe ich vor allem in der derzeitigen Konstitution des internationalen Kapitalismus, vor allem des internationalen Finanzkapitalismus, der in den letzten Jahrzehnten weltweit die Führung hatte. Er ist bekanntlich vor allem angelsächsischer Prägung bzw. Zentrierung; die großen internationalen Banken der Schweiz, Frankreichs, die Deutsche Bank etc. sind in dieses System wohl weitgehend integriert.

M.E. gehört zu den Grundlagen dieser derzeitigen Konstitution die internationale Vereinnahmung von allem und jedem unter der letztlichen Kontrolle dieses Finanzkapitalismus und der mit ihm liierten Regierungen bzw. ganzer Parteien- und Staatssysteme. Dabei ist natürlich noch immer in erster Linie das System der USA zu nennen, angeschlossen solche Subsysteme wie das europäische (das mitunter Emanzipationsneigungen zeigt). Es handelt sich um eine Art internationaler Herrschafts-Hierarchie unter Vermeidung der Herausbildung offener Fronten, großer internationaler Kriege etc. Diese Vereinnahmung bedient sich vorwiegend, allerdings nicht ausschließlich, sog. „friedlicher“ Methoden, schon einmal weil große Kriege innerhalb des kapitalistischen  Weltsystems nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts leicht zu unerwarteten und unerwünschten Resultaten führen können wie der Abspaltung großer Teile der Welt vom – westlichen – Kapitalismus sowie latenten, tendenziell explosiven Unversöhnlichkeiten innerhalb des kapitalistischen Systems.

Diese Art der erkauften und erzwungenen internationalen  „Stabilität“ wird allerdings über kurz oder lang heftigen Auseinandersetzungen weichen. Anderes anzunehmen wäre Selbstbetrug.

Widersprüche des heutigen globalen Kapitalismus

 Zu einer derartigen derzeitigen internationale Konstitution des Kapitalismus gehört auch wesentlich die gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle Abschleifung, Einebnung, Ruinierung, Ermüdung von Kräften, die gegenüber diesem Regime und seinen obersten Profitzentren zu mehr Eigenständigkeit, zu mehr Herr-im eigenen-Haus, zu mehr eigener Aneignung der ökonomischen Früchte tendieren, oder gar zu kreativen Neuerungen, die sich dieser globale Kapitalismus nicht einverleiben kann.

Man muß hierbei garnicht an solche starken sozialistischen Kräfte denken, die noch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, v.a. in Gestalt des damaligen China unter der Führung von Mao Zedong, fundamental opponierten und sich nicht integrieren ließen. Solche Kräfte gibt es heutzutage nicht mehr; Erscheinungen wie Nordkorea oder Venezuela stellen jedenfalls schon einmal wegen ihres geringen Gewichts keine wirklichen Herausforderungen für das globale Regime dar, ungeachtet ihrer klamaukhaften propagandistischen Aufwertungen in den internationale Medien. Eher muß man an ein Gebilde wie das heutige seinerseits kapitalistisch-staatsbürokratische China denken, das selbst auf die Übernahme der internationalen Führungsposition zustrebt und in Anbetracht seiner beträchtlichen Entwicklungspotenzen dafür auch in Frage kommt.

Eine der wichtigsten Herrschaftsmethoden des internationale Kapitalismus im Sinne dieser Abschleifung, Ruinierung, Ermüdung  von potentiell „gefährlichen“ Kräften ist die ökologistische Wende in Ökonomie und Gesellschaft. Die ökologistische Richtung ist das Gegen- und Ergänzungsstück zum Druck der weiterbestehenden und in Weiterentwicklung befindlichen internationalen Militärdiktatur des Kapitals, die vor allem von den USA ausgeübt wird. Die USA üben diese internationale militärische Erpressungs- und Terrormacht  gewissermaßen im Auftrag des internationalen Kapitalismus aus, aber auch naturgemäß im Interesse der Vorherrschaft der USA innerhalb des internationalen Kapitalismus, was zu erheblichen Reibungen führen kann und jedenfalls führen wird.

Die ökologistische Wende spielt in den verschiedenen Ländern, in den verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht überall eine gleich gewichtige Rolle. In Ländern wie Deutschland steht sie im Zentrum von Politik und offizieller Ideologie;  in Ländern wie den USA spielt sie eine wichtige, aber nicht die ausschlaggebende Rolle, anderswo mag es wiederum anders zugehen; aber überall ist sie präsent und funktioniert im Sinne bestimmter kapitalistischer Interessen, zumeist im Sinne internationaler kapitalistischer Interessen.

Die ökologistische Wende in Ökonomie und Gesellschaft muß bei allen Erwägungen über die möglichen Entwicklungslinien des internationalen kapitalistischen Systems mit ins Zentrum der Analyse gerückt werden. Sie ist in ihrer heutigen Form, seitdem sie vor etwa vierzig Jahren als umfassende Ideologie ausformulierte wurde („Die Grenzen des Wachstums“) ein ureigenes Produkt kapitalistischer Strategen und hat seitdem ihren Weg von den ursprünglichen Erscheinungsformen ( NB den von oben lancierten bzw. zumindest funktionalisierten Erscheinungsformen) der „Bürgerbewegungen“ „von unten“ in die Regierungsprogramme in aller Welt, sozusagen zur Quelle zurück, gemacht.

Die seit längerem exponierteste, veranwortlichste und in gewissem Sinn, jedenfalls nach innen, erfolgreichste Vertreterin dieser Ideologie ist Angela Merkel.

Kapitalismus und Ökologismus

Ein Grundproblem des modernen Kapitalismus ist die Kontrolle der modernen Produktivkräfte, ihre Einbindung in die kapitalistischen Interessen, ihre forcierte Entfaltung von Fall zu Fall ebenso wie ihre rigorose Unterdrückung von Fall zu Fall (und alle Misch- und Zwischenformen), und dieses Problem versucht die ökologistische Lehre fundamental im Sinne einer generellen feindlichen Wende gegen die Produkivkraftentwicklung anzugehen.

Diese Frage kann man zunächst einmal anhand von Beispielen versuchen zu verstehen.

Das Potential der Entwicklung von Produktivkräften, basierend vor allem auf der Entwicklung der Wissenschaften,  ist in der heutigen Gesellschaft größer und veränderungs- trächtiger denn je zuvor in der Geschichte. Die krisenhaften Zuspitzungen  des heutigen Kapitalismus haben letztlich ihre Wurzel in der Unvereinbarkeit der modernen Produktivkraftentwicklung mit der kapitalistischen Zwangsjacke der privaten Profitproduktion. Insofern hatte jemand wie Marx in seinen Visionen („Grundrisse“) über die Tendenz zur Verwissenschaftlichung und Automatisierung der Produktion, zur Befreiung der Menschheit von der Sklaverei der mehrwert-heckenden primitiven Lohnarbeit jedenfalls etwas ganz Wesentliches erfaßt.

Beispiele:

–  wenn es bspw. um die internationale militärische Suprematie der USA geht, kann der moderne Kapitalismus enorme Armeen von Wissenschaftlern und enorme Massen von Kapital zwecks Entwicklung von Grundlagenforschungen und weltweit wirksamen Waffen- sowie Überwachungssystemen einsetzen und Erfolge erzielen. Das hat in dem sog. Manhattan-Projekts der USA während des Zweiten Weltkriegs gegen Deutschland und Japan bereits in eindrucksvoller Weise funktioniert. Die USA verstanden es, für die Entwicklung der Nuklearwaffen viele Tausende von Wissenschaftlern, darunter viele aus der Creme der internationalen Forschung, Milliarden (in heutigen Maßstäben Billionen) von Kapital und ungezählte Arbeitskräfte zusammenzufassen und zum Erfolg zu führen. Die wissenschaftlichen Fortschritte, die dieses militärische Projekt mit sich brachte, sind selbstverständlich weit über die militärische Nutzung hinaus in die gesamte Produktivkraftentwicklung, auch die vieler anderer Länder, eingeflossen.

– heutige Projekte der Grundlagenforschung, wie z.B. das internationale CERN zur Erforschung der „Elementarteilchen“ oder  verschiedene Projekte zur Erforschung und perspektivischen Inbesitznahme des Weltraums, die teilweise in internationaler Zusammenarbeit, mehr jedoch in nationalen Eigenregies laufen (verständlicherweise, zumal sie mit militärischen Suprematiefragen eng verknüpft sein dürften), sind weitere Beispiele für die Weiterentwicklungen, die im Gange sind und selbstverständlich weiterhin die Produktionssysteme und damit die gesellschaftlichen Strukturen umwälzen werden.

– daneben gibt es weiterhin, so z.B.  in der unmittelbaren Sphäre der industriellen Konkurrenz der Kapitalisten untereinander und der kapitalistischen Staaten und Blöcke untereinander, zahlreiche fundamentale Weiterentwicklungen der Produktivkräfte, man denke nur an die Sprünge, die infolge der IT in der industriellen Produktion, in der internationalen Verknüpfung von Materialwirtschaft, Absatz und Reklame laufend zu verzeichnen waren in den letzten Jahrzehnten.

Die moderne Entwicklung der Produktivkräfte tendiert auch unter kapitalistischer Kontrolle elementar zu gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen und ruft daher im Kapitalismus Widerstände unterschiedlichster Art hervor. Ein relativ offen liegendes Beispiel ist die Entwicklung Chinas, in dem in den letzten Jahrzehnten erhebliche Teile der internationalen kapitalistischen industriellen Produktionskapazitäten konzentriert wurden und sich eine potente neue nationale Kapitalistenklasse entwickelt hat, u.a. mit  der Folge, daß die heute herrschenden Kräfte der chinesischen Gesellschaft  zu erheblichem internationalem Einfluß aufgestiegen sind und, zumindest in der Logik der weiteren Entwicklung, wenn nicht schon jetzt,  die Suprematie der USA in Frage stellen und sich wahrscheinlich zur Weltherrschaft  berufen fühlen.

Die Entwicklung Chinas stellt übrigens, bei allen ihren Widersprüchen und krassen Schattenseiten, und obwohl das internationale Kapital aus mannigfaltigen Gründen mit in ihr drinsteckt, einen schweren Einbruch in die kapitalistischen Konzepte der Bremsung der Produktivkräfte und der Beschränkung der Profitflüsse auf die früheren Kolonialmächte dar. Die Alternativideologen, die uns jahrzehntelang nichts Schlimmeres „für die Menschheit“ ausmalen zu können glaubten als daß „jeder Chinese“ eines Tages ebenso ein Auto werde haben wollen wie sie selbst, haben diesen Sermon stillschweigend begraben, weil sie im Falle China dem Fortschrittsdruck erheblicher Teile der Massen der Weltbevölkerung (1,3 Milliarden von ca. 7 Mrd.) weichen mußten. Diese Entwicklung ist ein historischer Fortschritt, auch wenn er unter kapitalistischen Vorzeichen sich Bahn bricht und daher in vieler Hinsicht auch Rückschritte und große künftige Gefahren mit sich bringt. Im übrigen muß vermerkt werden, daß die heutige Entwicklung Chinas ohne die vorangegangene Phasen der nationalen Befreiung, der Bauernbefreiung und der Infrastrukturentwicklung unter der Führung des Kommunisten Mao Zedong nicht möglich wären.

Ein weiteres Störelement einer kapitalistischen Weltordnung nach den Maßstäben des heutigen westlichen Finanzkapitalismus ist – in meinen Augen – noch immer oder wieder einmal, wenn auch in bescheidenerem Maßstab als bspw. die chinesische Expansion, das Syndrom Deutschland. Die Merkelsche Politik ist eine folgsame Reaktion auf dieses Gefühl der Beunruhigung in großen Teilen des Kapitalismus, sowohl des internationalen als auch des deutschen selbst.

Das deutsche Syndrom

Die deutsche Gesellschaft hat sich in der Vergangenheit gegenüber anderen entwickelten Mächten wie Großbritannien oder den USA trotz fundamentaler kapitalistischer Gemeinsamkeiten auch durch charakteristische Unterschiede abgehoben. Im Ausgang des 19. Jahrhunderts und weit ins 20. Jh. hinein war für Deutschland charakteristisch eine besondere Dynamik in der Verknüpfung von tiefgehender wissenschaftlicher Arbeit mit technischer und industrieller Anwendung. Natürlich heißt das nicht, daß nicht in Großbritannien, den USA, Frankreich, Rußland, der Sowjetunion und anderen Ländern ebenfalls  bedeutenden Entdeckungen und Entwicklungen stattgefunden hätten.Alle zusammen und oft in internationaler Zusammenarbeit haben sie den ökonomischen Fortschritt der Menschheit beflügelt.

Die Entwicklung der Produktivkräfte machte in Deutschland allerdings besonders markante Sprünge, selbst die inneren reaktionären politischen Strukturen wie die wilhelminisch-preußischen, die schweren Niederlagen wie im 1. Weltkrieg, die finstere Naziherrschaft und ihre Folgen konnten die Quellen dieser Dynamik in der deutschen Kultur und dem deutschen Bildungswesen nicht völlig verschütten. Es kam weiterhin zu internationalen Spitzenleistungen auf vielen Gebieten.

In früheren Jahrzehnten war im Falle Deutschland für mehrere Jahrzehnte hinzugekommen eine international beispiellose Entwicklung einer organisierten und zu erheblichen Teilen revolutionären Arbeiterbewegung, basierend auf der starken Industrialisierung des Landes. Diese Bewegung, in den 1860er Jahren beginnend bis hin zur Niederschlagung durch die Nazis 1933, war vom Kapitalismus als besondere Bedrohung empfunden worden, und zwar nicht nur vom einheimischen, sondern ganz klar auch von entscheidenden Vertretern des internationalen.[1]

Es gibt Anzeichen dafür, daß das angesprochene deutsche Syndrom, die Verbindung wissenschaftlicher mit industrieller Spitzenleistung und die daher rührende permanente „Störung“ der internationalen Handels- und Finanzbeziehungen, ja sogar die Möglichkeit der Entstehung international ausstrahlender progressiver politischer Bewegungen im Lande, noch heute, wenn auch abgeschwächt wirksam ist, und daß ein enormer internationaler Druck auf das Land ausgeübt wird in Richtung Nivellierung nach unten, bspw. in Richtung Abschleifung der Fähigkeiten zu Spitzenleistungen. Die ökologistische Bewegung (die hintergründig von solchen erzkapitalistischen Instanzen wie dem „Club of Rome“ und vielen Medien inspiriert und gespeist wurde und wird) griff in keinem anderen Land der Welt so prinzipiell, mit solcher Massivität und Hartnäckigkeit den Industrialismus und die Arbeitskultur überhaupt an wie in Deutschland, und sie konnte sich natürlich nicht auf diese Feinde beschränken, sondern mußte, in ihren Anfängen völlig offen und fanatisch, Wissenschaftlichkeit und Aufklärung überhaupt leugnen.

Sie griff die Substanz Deutschlands an wie keine andere Bewegung zuvor.

Heute geschieht das weniger offen, aber das Feindbild „deutsches Syndrom“ ist anscheinend noch immer zu bekämpfen, und inzwischen ist der ganz überwiegende Teil des deutschen politischen Apparats, Parteien, Bürokratien, Justiz und Medien usf., erstaunlich offen auf der Linie der fundamentalen Ruinierung des Landes zu finden, die seit etwa 1973 ursprünglich vor allem in Form der grünen Partei und ihrer Vorformen aufgetraten war. Er entspricht damit wieder relativ deutlich seinem urspünglichen Charakter als Instrument der Sieger- und Besatzungsmächte von 1945.

Man kann politischen Exponenten wie Angela Merkel und Ursula von der Leyen nicht analytisch beikommen, wenn man solche heutigen Entwicklungstendenzen des kapitalistischen  Systems insgesamt und seine speziellen Verknotungen in Deutschland nicht berücksichtigt.

Welche Rolle sieht der deutsche Kapitalismus selbst für sich in der heutigen Welt?

Die Spitzen des deutschen Kapitalismus haben offenbar kein Interesse, die Elemente internationaler Konkurrenz und internationaler eigener Initiative, zu denen sie technisch gesehen noch immer in der Lage wären, in allzu großem Maße auszuspielen. Sie zeigen auch sehr wenig Interesse bspw. an autonomer Mitwirkung bei der Entwicklung anderer Regionen der Welt, wie das noch in den 70er oder 80er Jahren gelegentlich vorkam; manchmal treten sie heute sogar als ausgesprochene Gegner derselben auf. Sie haben ihre internationale Zweitrangigkeit in politischer Hinsicht verinnerlicht. Sie bevorzugen, so scheint es, die fortschreitende Verwandlung des Landes in eine Art internationaler Rentner- und Nischenexistenz und erstreben für sich selber anscheinend so etwas wie eine dauerhafte Stellung nach dem Motto: „ich bin eben ein internationaler Kapitalist wie andere auch, außer Geld zählt für mich nichts.” Da wo sie nicht zu sehr anecken, machen sie noch auf Industrialismus und die entsprechenden Profite; sie setzen sehr stark auf die Stabilität der internationalen, derzeit noch immer von den USA militärisch und politisch garantierten Weltordnung und hoffen wohl, wenn dieser Himmel zusammenbricht, sich unter den anderer aufsteigender Mächte retten zu können. („When the sky falls, we’ll still stand tall…“?) Manche denken wohl auch daran, die EU zu stabilisieren und mit ihr ein gewissen Eigen- und Gegengewicht auf längere Sicht zu bilden. Das eigene Land aber wird von ihnen im Zusammenspiel mit den politischen Parteien und Institutionen heruntergewirtschaftet. Sie setzen darauf, an wachsenden Renterscharen noch für gewisse Zeit Finanz-, Immobilien- und Medizinprofite machen zu können, und sie produzieren bis auf weiteres auch noch inländisch für den internationalen Markt, aber die weitere Zukunft des Landes besteht für diese Kreise offenbar im Schrumpfprozeß. Denken sie, ihr Kapital werde sich schon irgendwie transformieren lassen und ihnen ihre Oberschichtenexistenz auch in einer künftigen Weltordnung ermöglichen?  Die Miesigkeit dieser Klasse steht der ihrer geschichtlichen Vorgängerin, die den Nazis die Herrschaft zugeschanzt hat, keinesfalls nach. Die ihr angemessene Kanzlerschaft ist die von Angela Merkel.

Das heutige globale kapitalistische System, wie  mehrfach gesagt, wird wesentlich von den Interessen des Finanzkapitalismus gesteuert und hat seine entscheidenden wirtschaftlichen Nervenknoten in den großen finanzkapitalistischen Unternehmen, seinen politischen Hegemon – noch – in den USA und seine globalen Machtmittel vor allem  in deren weltweiten militärischen und geheimdienstlichen Krakenarmen mit ihren vielen Verbündeten. Dieses System ist trotz gewisser Impulse für die Produktivkraftentwicklung an bestimmten Stellen weiterhin das größte Hindernis für die ökonomische und gesellschaftliche Emanzipation großer Teile der Erdbevölkerung. Unterentwicklung, Kapitalmangel, Konservierung reaktionärster politischer und kultureller Strukturen in vielen Ländern sind nach wie vor typische Merkmale des Systems. Sie sind bei vielen seiner Exponenten sogar bewußt bejahte und verteidigte Existenzbedingungen ihrer internationalen Profitstrukturen. Neben der rücksichtslos ausgeübten Macht der Kapitalflüsse und den konventionellen politischen und militärischen Machthebeln werden weltweit entwicklungs- und modernitätsfeindliche Strömungen eingesetzt, kreiert und aufgepäppelt, auch in den Stammländern selbst, die die angebliche Unmöglichkeit des Wachstums (der Unterprivilegierten) propagieren und alle Entwicklungen mit dem Bann zu belegen versuchen, die die vorhandenen Strukturen des internationalen Ausbeutungssystems gefährden könnten. Vernichtung gesellschaftlicher Produktivkräfte in großem Stil gehört zu den elementaren Praktiken des heutigen Kapitalismus. Ohne sie wäre seine Herrschaft nicht zu halten.

Wer die hier aufgeworfenen Fragen und die besondere Betroffenheit Deutschlands nicht ins Auge fassen will, kommt zu keiner zutreffenden Einschätzung der Rolle des Ökologismus und auch solch einer Exponentin wie Angela Merkel in der modernen kapitalistischen Weltgesellschaft.

Nun noch ein bißchen Höhler:

„Ursula von der Leyen entert Merkels Feldherrenhügel mit einer unwiderstehlichen Grundausstattung: Sie kommt als Ideologin, die ein Bekenntnis verteidigt. Und ein Paradox verbindet beide Frauen: Von der Leyen ist entschlossen, den massiven Verstoß gegen demokratisches Recht zuzulassen, den die staatlich verordnete Quote in der Marktwirtschaft bedeutet. Mit dieser rechtsbrechenden Hybris ist sie ganz nah bei Merkel, die sich regelmäßig über das Gesetz stellt.

Wäre von der Leyen ein Mann, könnte Merkel sie taktisch isolieren. Warum tut sie es nicht? Immerhin ist die Ministerin eine Rivalin, deren Gefährlichkeit soeben rasant zugenommen hat. Merkels Optionenschwund in diesem Fight einer neuen Qualität ist ebenso simpel wie überraschend begründet: Von der Leyen bringt gleich zweifachen Immunschutz mit. „Noli me tangere“ strahlt sie als Frau aus, und ihr ideologischer Kampfruf bindet sie ans gegnerische Lager. Dieser Immun-Mix macht von der Leyen überlegen. Weder kann Merkel ein Oppositionsbekenntnis schreddern, das schon morgen in ihrem Leasingschop auftaucht. Noch kann sie eine Gegnerin ächten, deren Erfolgsgeheimnis es zu studieren gilt: Mit Ursula von der Leyen kommt die Ideologie zurück in die Regierungspolitik.“

Höhler macht hier den Streit, den es anscheinend in führenden Kreisen der Merkel-Partei und –Regierung über die Frage gegeben hat, wie weit man den Unternehmen eine Frauenquote in Führungsgremien diktieren solle, zum Maßstab der Beurteilung der beiden Politikerinnen.

Ich frage mich, ob dieser Streit tatsächlich so wichtig und symptomatisch ist, wie ihn Frau Höhler hier schildert.  Auch interessiert mich die Frage, ob den Unternehmen Frauenquoten diktiert werden, eigentlich recht wenig. Sollte es so sein – wie Kritiker in den offiziellen Medien zu vernehmen sind -, daß auf diese Weise Führungspositionen auf bürokratische Weise mit weniger kompetenten Personen besetzt würden, dann wäre das bestenfalls ein kleiner weiterer Beitrag, denn inkompetente Manager und Aufsichtsräte gibt es in der kapitalistischen ökologisierten Vetternwirtschaft sowieso zuhauf, und angesichts der Abwärtsentwicklung, die die kapitalistischen Spitzen ohnehin für erhebliche Teile der deutschen Unternehmen, jedenfalls soweit sie noch im Lande tätig sind, für unvermeidlich oder sogar günstig halten, würde sich nichts Prinzipielles ändern. Vielleicht wäre es sogar andersherum? Gleichviel, in dieser Frage kann ich derzeit kein Urteil fällen.

Und was den generelleren Trend betrifft, den Gertrud Höhler hier anhand der von-der-Leyenschen Politik am Werk sieht: eine weitere Annäherung an die bodenlosen bürokratischen Bevormundungen, wie sie von SPD und Grünen längst offen vertreten werden – diese Annäherung ist ohnehin schon weit fortgeschritten, sie ist gerade durch Angela Merkel vorangetrieben worden. Wenn Höhler Angela Merkel als Bremse für Ursula von der Leyen auf diesem Wege sieht, kann das höchstens sehr relativ gelten.[2] Die Verökologisierung der gesamten deutschen Politik, auch und gerade derjenigen Elemente in den C-Parteien, die diese Entwicklung zeitweilig etwas verzögert haben oder wenigstens  einen solchen Anschein erweckt haben, ist nicht auf Ursula von der Leyen angewiesen, auch wenn diese vielleicht auf diesem oder jenem Gebiet etwas mehr treiben mag als es Angela Merkel bereits getan hat. Die entscheidende Frage ist auch nicht, ob es noch mehr bürokratische Einmischung und Anmaßung in alle Lebensbereiche geben wird, sondern daß die ökologistische Wandlung des Kapitalismus garnicht anders als extrem bürokratisch durchgesetzt werden kann. Es ist vergeblich über mehr bürokratische Diktatur zu klagen, wenn die Grundrichtung, nämlich die allmähliche Erstickung der Produktivkräfte, die Niveausenkung in Kultur, Wissenschaft, Technik, Bildung und Ausbildung nicht zum Thema gemacht wird. Die kapitalistischen Interessen hinter diesen Vorgängen müssen zum Thema gemacht werden.

Es gibt Leute, die in der ökologistischen oder „alternativen“ Transformation der Gesellschaft, die hierzulande vonstatten geht, u.a. auch eine „Feminisierung“ am Werke sehen, wobei sie beklagen, daß insbesondere bei heranwachsenden männlichen Kindern und Jugendlichen bestimmte Regungen wie Abenteuer- und Kampfeslust, die in einer voranstrebenden Gesellschaft unverzichtbar seien, besonders unterdrückt würden. Ob in der Politik von Ursula von der Leyen diese Richtung sich ausprägt und ggf. sogar in besonderem Maße sich ausprägt, weiß ich nicht. Das wäre jedenfalls ebenfalls zum Thema zu machen. Jedenfalls unterdrückt die bürokratische ökologistische, alternative Transformation, wie sie hier vonstatten geht, im Prinzip alles was vorwärts weist. Wenn es so ist, daß männliche Jugendliche von bestimmten pädagogischen Richtungen derzeit besonders nachteilig betroffen sind, dann ist im übrigen daraus nicht zu schließen, daß die weiblichen dadurch bessere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet bekämen (dieser Gedanke wäre selbst engstirnigster sog. „Feminismus“). In einer auf den langsamen exitus programmierten Gesellschaft ist die Zukunft für die meisten Angehörigen beider Geschlechter unerfreulich, auch wenn die profitierenden Kreise vielleicht durch eine „Frauenquote“ oder eine „Feminisierung“ sich zeitweilig besser zu erhalten hoffen mögen.

 

  (einige Schreibfehler wurden verbessert, einige Sätze aufgeteilt und ein paar erläuternde Worte hinzugefügt, 14.5.2013)


[1] Das Hitlerregime war nur möglich geworden durch die Unterstützung, ja man kann fast sagen Regie der wesentlichen Exponenten des Kapitalismus im Lande selbst wie auch insbesondere in Großbritannien und den USA. Hitler hatte die „Ausrottung des Bolschewismus“ zu seinem Kernziel erklärt, d.h. die Niederwerfung der sozialistischen Bewegung im eigenen Lande, und im internationalen Rahmen die Ausrottung der damaligen sozialistischen Sowjetunion, und dafür bekam er letztlich den Auftrag von den kapitalistischen Drahtziehern. Die Verquickung seines politischen Vorgehens mit dem Antisemitismus, der in einer späteren Phase dann ebenfalls zu blutigen Massenfolgen führen sollte – zunächst einmal mußten die deutschen Arbeiterorganisationen und die ab 1939 überfallenen Völker bluten -, ist im Grunde ein Nebenzweig des Hitlerismus gewesen. Das muß angesichts der noch heute weiter betriebenen Verwischung seines Wesens durch die offizielle kapitalistische Propaganda, als seien die Verbrechen gegen das europäische Judentum der letztliche Kern des Nazifaschismus gewesen, einmal mehr betont werden.

 

[2] Höhler schreibt: „Was Merkel heute noch nicht wagt, von der Leyen bietet es schon an: garantierte staatliche Kita-Betreuung, Rentenerhöhung, Bildungspaket, Frauenquoten usw. usw. Sie ist diejenige, die sich Politik nur mit Steuererhöhungen und noch mehr Staat vorstellen kann. Dass das der Grundtendenz der Bürgerlichen widerspricht – wen kümmert’s!

Von der Leyen hätte in der SPD oder bei den Grünen nicht diese Karriere hinlegen können, weil sie eine unter vielen gewesen wäre, die dasselbe Mantra singen – natürlich muss man ihr nichtsdestoweniger eine große politische Begabung und eine noch größere Kaltschnäuzigkeit attestieren.“

 

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Ich verspreche jede sachlich irgendwie relevante Zuschrift dann im Anhang zu dem betr. Beitrag zu veröffentlichen, auch wenn sie mit meinen Ansichten garnicht übereinstimmen kann.

 

 

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